Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
überraschte mich der Einfall:
»Weißt du, Lisa, er ist vielleicht gekommen, um ihr den Heiratsantrag zu machen.«
»N – n – nein … er wird keinen machen …«, antwortete sie überzeugt und langsam, mit einer ganz leisen Stimme.
»Du weißt nicht, Lisa, daß ich ihn, auch wenn wir uns vorhin gestritten haben, man hat es dir vielleicht hinterbracht, aufrichtig liebe und ihm, bei Gott, Erfolg wünsche. Wir haben uns vorhin schon wieder versöhnt. Wenn wir glücklich sind, sind wir so gut … Siehst du, er hat eine Fülle schöner Neigungen … Und auch Humanität … Jedenfalls wenigstens ansatzweise … Und in den Händen eines so charakterfesten und klugen Mädchens wie die Werssilowa würde er vollends ins Gleichgewicht kommen und glücklich werden. Schade, daß ich keine Zeit habe … aber fahr doch ein Stückchen mit mir, ich würde dir dann etwas anvertrauen …«
»Nein, fahr allein, ich muß in die andere Richtung. Kommst du zum Essen?«
»Ich komme, ich komme, wie versprochen. Hör zu, Lisa: Ein widerlicher Kerl – kurz, ein abscheuliches Subjekt, ein gewisser Stjebelkow, wenn du ihn kennst, übt auf seine Angelegenheiten einen furchtbaren Einfluß aus … Es geht um Wechsel … Er hat ihn völlig in der Hand und hat ihn dermaßen unter Druck gesetzt, daß der Fürst in seiner Erniedrigung keinen anderen Ausweg sieht, als Anna Andrejewna um ihre Hand zu bitten, das heißt, beide sehen es so. Eigentlich müßte sie gewarnt werden; vielleicht wäre das auch Unsinn, denn sie wird schon selbst später alle Dinge ins Lot bringen. Wird sie ihm einen Korb geben oder nicht? Was glaubst du?«
»Leb wohl, ich hab keine Zeit.« Lisa brach unvermittelt ab, und ich las in ihrem flüchtigen Blick plötzlich einen solchen Haß, daß ich erschrocken ausrief:
»Lisa, meine Liebe! Was habe ich getan?«
»Dich meine ich nicht; du sollst nur nicht spielen …«
»Ach so, das Spielen, ich tu’s nicht mehr.«
»Du hast gerade gesagt: › Wenn wir voller Glück sind ‹, du bist also sehr glücklich?«
»Wahnsinnig, Lisa, wahnsinnig! Mein Gott, es ist ja schon drei Uhr, sogar schon darüber! … Leb wohl, Lisa, Lisotschka, Schwesterchen, sag doch: Darf man eine Frau warten lassen? Ist das erlaubt?«
»Bei einem Rendezvous, nicht wahr?« Lisas Lippen verzogen sich ganz leicht zu einem leblosen, zuckenden Lächeln.
»Gib mir dein Pfötchen, es soll mir Glück bringen.«
»Glück bringen? Meine Hand? Um nichts auf der Welt!«
Und sie entfernte sich rasch. Und ihre Stimme hatte, das war das Besondere, sehr ernst geklungen. Ich warf mich in meinen Schlitten.
Jaja, dieses »Glück« war damals die besondere Ursache, daß ich wie ein blinder Maulwurf nichts außer mir selbst verstanden und gesehen habe!
Viertes Kapitel
I
Heute scheue ich mich, es auch nur zu erzählen. All das liegt weit zurück; aber all das ist auch heute noch für mich wie eine Fata Morgana. Wie konnte eine solche Frau einem so widerwärtigen Grünschnabel, wie ich damals einer war, ein Rendezvous gewähren? – so schien es auf den ersten Blick! Als ich, nach dem Abschied von Lisa, davongerast war und mein Herz zu hämmern begonnen hatte, glaubte ich, wahnsinnig zu sein: Die Vorstellung von einem gewährten Rendezvous kam mir plötzlich wie eine derart grelle Ungereimtheit vor, daß auch nur die Möglichkeit einer Gewißheit ausgeschlossen war. Aber dennoch, ich hatte keinerlei Zweifel; mehr sogar: Je greller die Ungewißheit erschien, desto sicherer wähnte ich mich in meinem Glauben. Mich beunruhigte, daß es schon drei Uhr geschlagen hatte: “Wenn mir schon ein Rendezvous gewährt wurde, darf ich zu diesem Rendezvous nicht zu spät kommen”, dachte ich. Auch allerlei alberne Fragen rasten mir durch den Kopf, zum Beispiel die folgende: “Was ist jetzt vorteilhafter, kühn oder schüchtern?” Aber all das raste nur vorbei, weil das Wichtigste im Herzen verschlossen blieb, etwas, das ich nicht bestimmen konnte. Am Tag vorher war mir gesagt worden: »Morgen um drei werde ich bei Tatjana Pawlowna sein« – das war alles gewesen. Aber erstens wurde ich auch bei ihr, in ihrem Zimmer, stets unter vier Augen empfangen, und sie hätte mir alles, was sie wünschte, sagen können, auch ohne sich zu Tatjana Pawlowna zu begeben; wozu also sollte ein anderer Ort bestimmt werden, ausgerechnet bei Tatjana Pawlowna? Und die nächste Frage: Wird Tatjana Pawlowna zu Hause sein oder nicht? Wenn es um ein Rendezvous geht, wird Tatjana
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