Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
mit mir wie ein Student mit einem anderen unterhalten … Ich habe mir nicht vorgestellt, daß Ihre Stirn so ist: Sie ist ein wenig niedrig, wie bei den Antiken, aber weiß und zart wie Marmor unter dem üppigen Haar. Ihr Busen ist hoch, Ihr Gang ist leicht, Sie sind von einer seltenen Schönheit und nicht im geringsten hochmütig. Ich weiß es doch erst jetzt, ich habe meinen Augen lange nicht getraut!«
Sie hörte meine ganze ungestüme Tirade mit großen, weit geöffneten Augen an; sie sah, daß auch ich zitterte. Einige Male hatte sie mit einer reizenden, vorsichtigen Geste ihre kleine, behandschuhte Rechte gehoben, um mir Einhalt zu gebieten, hatte sie aber jedes Mal staunend und furchtsam zurückgezogen. Immer wieder war sie sogar mit dem ganzen Körper zurückgewichen. Zwei- oder dreimal hatte sich ihr Gesicht in einem Lächeln aufgehellt. Zwischendurch war sie stark errötet, aber schließlich war sie nur noch erschrocken und blaß. Kaum hielt ich inne, als sie die Hand hob und mit einer bittenden, aber immer noch klangvollen Stimme sagte:
»So darf man nicht sprechen … Das ist unmöglich …«
Plötzlich erhob sie sich und griff ohne Hast nach ihrem Tuch und dem Zobelmuff.
»Sie wollen gehen?« rief ich.
»Ich fürchte mich richtig vor Ihnen … Sie mißbrauchen …« sagte sie gleichsam bedauernd und vorwurfsvoll.
»Hören Sie, ich werde bei Gott keine Mauer einreißen.«
»Aber Sie haben damit ja schon angefangen.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich weiß nicht einmal, ob Sie mich gehen lassen.« Anscheinend fürchtete sie wirklich, daß ich sie nicht gehen lassen würde.
»Ich werde Ihnen eigenhändig die Tür öffnen. Gehen Sie. Aber Sie müssen wissen: Ich hatte einen riesigen Entschluß gefaßt; und wenn Sie meiner Seele Licht schenken wollen, so kehren Sie um, nehmen Sie Platz und hören Sie nur noch zwei Worte. Aber wenn Sie es nicht wünschen, so gehen Sie, und ich werde Ihnen eigenhändig die Tür öffnen!«
Sie sah mich an und nahm wieder Platz.
»Mit welcher Empörung wäre eine andere hinausgegangen! Sie aber haben wieder Platz genommen!« rief ich begeistert aus.
»Sie haben sich früher nie erlaubt, so mit mir zu sprechen.«
»Früher bin ich immer schüchtern gewesen. Ich bin auch jetzt hier eingetreten, ohne zu wissen, was ich sagen werde. Glauben Sie, ich wäre jetzt nicht verlegen? Ich bin auch jetzt verlegen, aber ich hatte plötzlich einen riesigen Entschluß gefaßt und gespürt, daß ich ihn verwirklichen werde. Und als dieser Entschluß feststand, habe ich auf der Stelle meinen Verstand verloren und zu reden begonnen … Hören Sie gut zu, hier sind meine zwei Worte: Bin ich Ihr Spion oder nicht? Antworten Sie mir – das ist die Frage!«
Dunkle Röte übergoß rasch ihr Gesicht.
»Antworten Sie noch nicht, Katerina Nikolajewna. Sie sollen alles hören und dann die ganze Wahrheit sagen.«
Ich hatte auf einmal sämtliche Zäune umgerissen und flog in den leeren Raum.
II
»Vor zwei Monaten stand ich hier hinter der Portiere … Das wissen Sie … Und Sie sprachen mit Tatjana Pawlowna über den Brief. Ich sprang hervor, völlig außer mir, und verplapperte mich. Sie haben sofort verstanden, daß ich etwas wußte … Es war unmöglich, es nicht zu verstehen … Sie suchten ein wichtiges Dokument und ängstigten sich darum … Warten Sie, Katerina Nikolajewna, sagen Sie jetzt noch nichts. Ich muß Ihnen sagen, daß Ihr Verdacht begründet war: Dieses Dokument existiert … das heißt, es hat existiert … Ich habe es gesehen; es ist Ihr Brief an Andronikow, nicht wahr?«
»Sie haben diesen Brief gesehen?« fragte sie rasch, verlegen und erregt. »Wo haben Sie ihn gesehen?«
»Ich habe ihn gesehen … Ich sah ihn bei Kraft … bei dem, der sich erschossen hat …«
»Wirklich? Sie haben ihn selbst gesehen? Und was ist damit geschehen?«
»Kraft hat ihn zerrissen.«
»Vor Ihnen, haben Sie es gesehen?«
»Vor mir. Er hat ihn zerrissen, wahrscheinlich angesichts des Todes … Ich ahnte damals noch nicht, daß er sich erschießen würde …«
»Dann ist er also vernichtet, Gott sei Dank!« sagte sie langsam, seufzte und schlug ein Kreuz.
Ich habe sie nicht belogen. Das heißt, ich habe wohl gelogen, denn das Dokument war in meinem Besitz und ist niemals bei Kraft gewesen, aber das war nur eine Lappalie, im allerwesentlichsten habe ich nicht gelogen, weil ich im selben Augenblick, da ich log, mir das Wort gab, diesen Brief noch am
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