Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
ich weiß kaum noch, wovon. Ich geriet außer Atem und konnte nur noch mühsam artikulieren, aber ich hielt den Blick nicht länger gesenkt. Mein Herz hämmerte. Ich redete etwas, das gar nichts mit der augenblicklichen Situation zu tun hatte, aber möglicherweise nicht ohne Zusammenhang. Sie hörte mir zu, zuerst mit ihrem gleichmütigen, geduldigen Lächeln, das nie von ihrem Gesicht wich, aber nach und nach zeigte sich Staunen und schließlich Erschrecken in ihrem aufmerksam auf mich gerichteten Blick. Das Lächeln verließ sie auch jetzt nicht, aber auch das Lächeln war immer wieder wie ein Schauern.
»Was haben Sie?« fragte ich plötzlich, als ich merkte, daß sie nun am ganzen Körper schauerte.
»Ich fürchte mich vor Ihnen«, antwortete sie mir, beinahe ängstlich.
»Warum gehen Sie nicht? Jetzt, da Tatjana Pawlowna nicht zu Hause ist und da Sie wissen, daß sie nicht kommen wird, müßten Sie eigentlich nicht aufstehen und gehen?«
»Ich wollte auf sie warten. Jetzt aber … Wirklich …« Sie erhob sich schon.
»Nein, nein, bleiben Sie sitzen!« Ich hielt sie zurück. »Jetzt schauern Sie wieder, aber Sie lächeln auch, wenn Sie sich fürchten … Sie lächeln immer, und jetzt lächeln Sie strahlend …«
»Phantasieren Sie?«
»Ich phantasiere.«
»Ich fürchte mich«, flüsterte sie abermals.
»Wovor?«
»Daß Sie auf einmal die Mauer einreißen …« Sie lächelte wieder, aber nun richtig ängstlich.
»Ich kann Ihr Lächeln nicht ertragen …!«
Und ich begann von neuem zu reden. Mir war, als würde ich schweben. Mir war, als würde ich getrieben. Ich hatte noch nie so mit ihr gesprochen, sondern ich war jedes Mal vor Schüchternheit vergangen. Ich verging auch dieses Mal vor Schüchternheit, aber ich redete; ich weiß noch, von ihrem Gesicht.
»Ich kann Ihr Lächeln nicht länger ertragen!« rief ich plötzlich. »Wieso habe ich Sie mir schon in Moskau bedrohlich … prachtvoll und mit den tückischen Reden einer Dame von Welt vorgestellt? Ja, schon in Moskau; ich habe dort mit Marja Iwanowna von Ihnen gesprochen, und wir haben uns vorgestellt, wie Sie sein müßten … Erinnern Sie sich an Marja Iwanowna? Sie haben sie ja aufgesucht. Als ich hierherfuhr, habe ich die ganze Nacht im Zug von Ihnen geträumt. Ich habe einen ganzen Monat lang, bis zu Ihrer Ankunft, Ihr Porträt im Kabinett Ihres Vaters betrachtet und doch nichts erkannt. Ihr Gesichtsausdruck ist kindlicher Schalk und unendliche Treuherzigkeit – das ist es! Ich habe mich jedes Mal, wenn ich Sie besuchte, darüber furchtbar gewundert. Oh, auch Sie können stolz auftreten und einen Menschen mit Ihrem Blick vernichten: Ich erinnere mich gut daran, wie Sie mich bei Ihrem Vater angesehen haben, damals, als Sie gerade aus Moskau ankamen … Ich habe Sie damals gesehen, aber wenn man mich damals, als ich draußen war, gefragt hätte: ›Wie sieht sie aus?‹ – dann hätte ich nichts sagen können. Nicht einmal Ihre Größe hätte ich angeben können. Ich hatte Sie gesehen – und war geblendet. Ihr Porträt hat mit Ihnen überhaupt keine Ähnlichkeit: Ihre Augen sind gar nicht dunkel, sondern hell, nur durch die langen Wimpern wirken sie dunkel. Sie sind vollschlank, Sie sind mittelgroß, aber Ihre Fülle ist straff, leicht, die gesunde Fülle einer Dorfschönheit. Und auch Ihr Gesicht ist ganz und gar ländlich. Es ist das Gesicht einer Dorfschönheit – seien Sie nicht beleidigt, das ist doch gut – es ist das runde, klare, blühende, offene, lachende und … schüchterne Gesicht! Stimmt, ein schüchternes. Das schüchterne Gesicht der Katerina Nikolajewna Achmakowa! Schüchtern und keusch, bei Gott! Mehr als keusch – kindlich! – so ist Ihr Gesicht! Ich war die ganze Zeit verblüfft und habe mich die ganze Zeit gefragt: Soll das diese Frau sein? Jetzt weiß ich, daß Sie sehr klug sind, aber zunächst habe ich geglaubt, Sie wären naiv. Ihr Verstand ist heiter, aber ohne jedes Raffinement … Außerdem liebe ich es, daß Ihr Lächeln Sie nie verläßt: Das – das ist mein Paradies! Außerdem liebe ich Ihre Ruhe, Ihre Gelassenheit und Ihre Art, die Worte auszusprechen, fließend, ruhig und fast träge – und diese Trägheit liebe ich. Ich glaube, daß Sie auch dann, wenn eine Brücke unter Ihnen einstürzte, daß Sie auch dann noch etwas Ruhiges und Gemessenes sagen würden. Ich habe Sie mir als den Gipfel von Stolz und Leidenschaft vorgestellt, Sie aber haben sich diese ganzen zwei Monate hindurch
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