Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Abgründe meines Falles!«
»Sogar Abgründe! Ich erkenne Ihren Stil«, sagte sie mit leisem Lächeln. »Dieser Brief«, fuhr sie traurig fort, »war die traurigste und leichtsinnigste Tat meines Lebens. Das Bewußtsein dieser Tat war mir ein ständiger Vorwurf. Unter dem Einfluß bestimmter Umstände und Befürchtungen habe ich an meinem lieben, großzügigen Vater gezweifelt. Bei dem Gedanken, daß dieser Brief … in die Hände Übelwollender geraten könnte … angesichts der guten Gründe, dies zu befürchten«, (das klang sehr überzeugt), »zitterte ich vor Angst, man könnte ihn mißbrauchen, man könnte ihn Papa vorlegen … Und er könnte einen erschütternden Eindruck auf ihn machen … in seinem Zustand … auf sein Befinden … und seine Liebe zu mir könnte versiegen … Ja«, fügte sie hinzu, wobei sie mir ruhig und klar in die Augen sah, wahrscheinlich nachdem sie irgend etwas Flüchtiges in meinem Blick gelesen hatte, »ja, ich machte mir auch Sorgen um mein eigenes Schicksal: Ich befürchtete, daß er … als Folge seiner Krankheit … mir … seine großzügige Fürsorge entziehen würde … Dieses Gefühl gehörte auch dazu, aber gewiß bin ich auch darin vor ihm schuldig: In seiner Güte und seiner Großmut hätte er mir bestimmt vergeben. Das ist alles, was damals gewesen ist. Aber wie ich mich Ihnen gegenüber verhalten habe – das durfte nicht sein«, schloß sie, plötzlich von neuem verlegen. »Sie haben mich beschämt.«
»O nein, Sie haben nicht den geringsten Grund, sich zu schämen!« rief ich.
»Ich habe tatsächlich mit Ihrer feurigen Einbildungskraft gerechnet, und das gestehe ich«, stieß sie mit gesenktem Blick hervor.
»Katerina Nikolajewna, wer, sagen Sie mir, wer zwingt Sie dazu, vor mir solche Geständnisse laut auszusprechen?« rief ich wie trunken. »Was hätte Sie gehindert, aufzustehen und in erlesensten Sätzen mir unwiderleglich, mit der Deutlichkeit von zwei mal zwei zu beweisen, daß, obwohl etwas war, das zwar etwas, aber dennoch nichts gewesen ist – verstehen Sie, eben so, wie man bei euch in der besten Gesellschaft mit der Wahrheit umzugehen pflegt? Ich bin ja dumm und plump, ich hätte Ihnen aufs Wort geglaubt, ich hätte allem geglaubt, was Sie auch immer gesagt hätten! So hätten Sie sich doch verhalten können! Sie konnten sich doch vor mir nicht wirklich fürchten! Wie konnten Sie sich vor einem Naseweis, vor einem jämmerlichen grünen Jungen freiwillig erniedrigen?«
»Wenigstens damit habe ich mich vor Ihnen nicht erniedrigt«, antwortete sie mit außerordentlicher Würde, weil sie meinen Ausruf offensichtlich mißverstanden hatte.
»Oh, im Gegenteil, ganz im Gegenteil, das ist es ja, was mich so aufregt …«
»Ach, das war so schlecht und so leichtsinnig von mir!« rief sie, indem sie eine Hand hob und vors Gesicht hielt, als wollte sie sich dahinter verstecken. »Ich schämte mich schon gestern, und deswegen war mir auch so unwohl, als Sie bei mir waren … Die ganze Wahrheit ist«, fügte sie hinzu, »daß meine gegenwärtigen Verhältnisse es plötzlich unumgänglich machen, endlich die ganze Wahrheit über das Schicksal dieses unseligen Briefes zu erfahren, ich war ja schon soweit, ihn einfach zu vergessen … denn ich habe Sie keineswegs nur aus diesem Grunde empfangen«, fügte sie plötzlich hinzu.
Mein Herz erbebte.
»Bestimmt nicht«, sagte sie mit einem feinen Lächeln und wiederholte: »Bestimmt nicht. Ich … Sie haben vorhin sehr treffend bemerkt, Arkadij Makarowitsch, daß wir uns oft unterhalten wie zwei Studenten. Glauben Sie mir, ich langweile mich manchmal unter Menschen sehr, ganz besonders nach der Rückkehr aus dem Ausland und all den Unglücksfällen in unserer Familie … Ich nehme sogar nur selten am gesellschaftlichen Leben teil, und das nicht nur aus Trägheit. Immer wieder überkommt mich der Wunsch, aufs Land zu ziehen. Ich könnte dort meine Lieblingsbücher wieder lesen, die schon längst bereitliegen, aber zum Lesen bin ich immer noch nicht gekommen. Ich habe Ihnen schon davon erzählt. Wissen Sie noch, wie Sie gelacht haben, als Sie erfuhren, daß ich russische Zeitungen lese, zwei Zeitungen täglich?«
»Ich habe nicht gelacht …«
»Natürlich, weil das alles Sie ebenso aufregt. Ich habe Ihnen längst gestanden: Ich bin Russin, und ich liebe Rußland. Wissen Sie noch, wir haben zusammen ›Fakten‹ gelesen, wie Sie es nannten« (sie lächelte). »Sie waren zwar häufig irgendwie …
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