Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
selben Abend zu verbrennen. Ich schwöre, daß ich ihn, wenn ich ihn in jenem Augenblick in der Tasche gehabt hätte, herausgeholt und ihr überreicht hätte; aber ich hatte ihn eben in diesem Augenblick nicht bei mir, sondern er war zu Hause. Übrigens wäre es durchaus möglich gewesen, daß ich ihn ihr nicht überreicht hätte, weil es mir außerordentlich peinlich gewesen wäre, ihr damals zu gestehen, daß er so lange in meiner Hand war, ich sie aber so lange belauert, gezögert und ihn ihr nicht übergeben hätte. Es lief ja auf dasselbe hinaus: Ich wollte ihn zu Hause verbrennen und habe sie auf keinen Fall belogen! Ich war in jenem Augenblick rein, das schwöre ich.
»Und wenn dem nun so ist«, fuhr ich beinahe außer mir fort, »dann sagen Sie mir doch: Haben Sie mich etwa deshalb angelockt, mich freundlich behandelt und mich empfangen, weil Sie vermuteten, ich wüßte von diesem Dokument? Warten Sie, Katerina Nikolajewna, noch einen Augenblick. Sprechen Sie noch nicht! Lassen Sie mich ausreden: Ich habe die ganze Zeit, während ich Sie besuchte, vermutet, daß Sie mich nur deswegen so freundlich behandelten, um mich über diesen Brief auszufragen, um mich so weit zu bringen, daß ich es zugebe … Warten Sie noch einen Augenblick: Ich habe es vermutet und gelitten: Ihr vermutetes falsches Spiel war mir unerträglich, weil ich … weil ich in Ihnen das edelste Wesen gefunden zu haben glaubte! Ich gebe es offen, ganz offen zu: Ich war Ihr Feind, aber ich habe in Ihnen das edelste Wesen gefunden! Ich war in allem besiegt. Aber das falsche Spiel, das heißt der Argwohn eines falschen Spiels, peinigte mich … Jetzt muß sich alles entscheiden, sich alles erklären, jetzt hat die Stunde geschlagen; aber warten Sie noch einen Augenblick, sagen Sie noch nichts, Sie sollen wissen, wie ich selbst dies alles ansehe, gerade jetzt, in diesem Moment; ich gestehe unumwunden: Selbst, selbst wenn es sich so verhielte, ich könnte nicht zornig werden … das heißt, ich wollte sagen, ich könnte nicht beleidigt sein, weil es so völlig natürlich wäre, ich verstehe es ja. Was könnte daran unnatürlich oder schlecht sein? Sie quälen sich wegen eines Dokuments, Sie vermuten, daß ein Sowieso alles weiß; es ist durchaus denkbar, daß Sie sich wünschten, dieser Sowieso würde etwas ausplaudern, warum auch nicht? … Daran ist nichts, rein nichts Schlechtes. Ich meine das ganz ehrlich. Aber jetzt müssen Sie mir etwas sagen … gestehen (verzeihen Sie mir diesen Ausdruck). Ich brauche Wahrheit. Warum auch immer! Also, sagen Sie: Haben Sie mich so freundlich behandelt, um mich über dieses Dokument auszufragen? … Katerina Nikolajewna?« Ich sprach, als würde ich abstürzen, meine Stirn glühte. Sie hörte mir nun ohne Unruhe zu, im Gegenteil, teilnahmsvoll, verlegen, als schämte sie sich.
»Ja, das habe ich«, sagte sie langsam und halblaut. »Vergeben Sie mir, ich bin schuldig«, fügte sie plötzlich hinzu und streckte mir einen Augenblick lang die Hände entgegen. Damit hatte ich niemals gerechnet. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit diesen paar Worten; schon gar nicht von ihr, die ich schon kannte.
»Und Sie sagen mir: ›Ich bin schuldig‹! So ganz einfach: ›Ich bin schuldig‹?«
»Oh, ich habe schon seit langem gefühlt, daß ich vor Ihnen schuldig bin … und bin jetzt sogar froh, daß es ans Licht gekommen ist …«
»Schon seit langem gefühlt? Aber warum haben Sie es dann nicht früher gesagt?«
»Aber ich wußte doch nicht, wie ich es sagen sollte«, lächelte sie, »das heißt, ich wußte es wohl«, sie lächelte wieder, »aber irgendwie schämte ich mich jedes Mal … weil ich Sie tatsächlich am Anfang nur deshalb ›angelockt‹ habe, wie Sie sich ausdrückten, nun, aber dann ekelte es mich bald an … ich war dieses ganzen falschen Spiels überdrüssig, das versichere ich Ihnen!« fügte sie bitter hinzu. »Und dieses ganzen Umtriebs ebenfalls!«
»Aber warum sind Sie damals nicht darauf gekommen, direkt danach zu fragen? Sie hätten einfach sagen sollen: ›Du weißt doch von diesem Brief, warum verstellst du dich?‹ Und ich hätte Ihnen alles sofort gesagt, sofort gestanden!«
»Aber ich habe Sie … ein wenig gefürchtet. Ich gebe zu, daß ich auch Ihnen nicht traute. Und genaugenommen: Wenn ich hinterlistig war, so waren Sie es ebenfalls«, fügte sie lächelnd hinzu.
»Ja, ja, ich war unwürdig!« rief ich betroffen aus. »Oh, Sie kennen noch nicht die tiefen
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