Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
mich an sie, immer noch den Ungezwungenen spielend.
»Nein, nein«, lehnte sie ab, »es ist für mich viel schmeichelhafter, dein Malheur zu sein als das Gegenteil. Das kannst du mir glauben.«
»Mein Lieber, man muß im Leben lernen, die kleinen Malheurs zu ertragen«, bemerkte Werssilow mit einem unbestimmten Lächeln. »Ein Leben ohne Malheurs lohnt sich nicht.«
»Wissen Sie, Sie sind manchmal ein schrecklicher Reaktionär!« rief ich aus und lachte nervös.
»Mein Freund, das ist mir ganz schnuppe.«
»Nein, das ist nicht schnuppe! Warum sagen Sie es einem Esel nicht auf den Kopf zu, daß er ein Esel ist?«
»Meinst du etwa dich selbst? Ich will, erstens, über niemand ein Urteil fällen, und ich kann es auch nicht.«
»Warum wollen Sie es nicht? Warum können Sie es nicht?«
»Ich bin zu faul und habe keine Lust. Eine kluge Frau hat mir einmal gesagt, ich hätte nicht das Recht, andere zu richten, weil ich ›das Leiden nicht kenne, denn um als Richter zu urteilen, müsse man das Recht dazu erlitten haben.‹ Ein wenig hochtrabend, aber auf mich gemünzt wahrscheinlich zutreffend, so daß ich mich diesem Urteilsspruch sogar gern unterwerfe.«
»Hat Ihnen das etwa Tatjana Pawlowna gesagt?« rief ich aus.
»Woher weißt du das?« Werssilow sah mich einigermaßen erstaunt an.
»Ich habe es Tatjana Pawlowna am Gesicht abgelesen: Darin zuckte es plötzlich.«
Ich hatte es zufällig erraten. Diesen Satz hatte tatsächlich, wie sich später herausstellte, Tatjana Pawlowna am Vorabend in einem lebhaften Gespräch Werssilow an den Kopf geworfen. Und überhaupt war ich, ich wiederhole es, mit meinen Freuden und Exaltationen ganz zur Unzeit bei ihnen hereingeplatzt: Jeder von ihnen hatte sein Eigenes, und zwar sehr Schweres auf dem Herzen.
»Ich verstehe gar nichts, alles ist so abstrakt. Typisch für Sie; Sie lieben es, sich abstrakt auszudrücken, Andrej Petrowitsch; das ist ein egoistischer Zug; nur Egoisten drücken sich mit Vorliebe abstrakt aus.«
»Gar nicht dumm, aber du solltest nicht zudringlich werden.«
»Nein, erlauben Sie«, ich blieb exaltiert. »Was heißt das, man muß ›das Recht zu richten erlitten haben‹? Jeder, der ehrlich ist, darf richten – so denke ich.«
»Unter solchen Bedingungen würdest du nicht viele Richter finden.«
»Einen kenne ich schon.«
»Wer soll das sein?«
»Er sitzt jetzt neben mir und spricht mit mir.«
Werssilow lächelte eigentümlich, neigte sich dicht an mein Ohr, legte die Hand auf meine Schulter und flüsterte: »Er lügt dich immer an.«
Ich verstehe heute noch nicht, was er sich dabei gedacht hat, aber offensichtlich war er in diesem Moment außerordentlich erregt (infolge einer Nachricht, wie ich es mir später erklärte). Aber dieses Wort: »Er lügt dich immer an!« war so unerwartet und klang so ernst, in einem so merkwürdigen, keineswegs scherzhaften Ton, daß ich irgendwie am ganzen Körper nervös zusammenzuckte, beinahe erschrak und ihn entsetzt ansah; aber Werssilow beeilte sich zu lachen.
»Gott sei Dank!« sagte Mama erschreckt, weil er mir etwas ins Ohr geflüstert hatte. »Denn ich dachte schon … Weißt du, Arkascha, du darfst dich nicht über uns ärgern; kluge Leute werden auch ohne uns immer um dich sein, aber wer wird dich lieben, wenn wir uns nicht haben?«
»Genau das macht die Familienliebe unsittlich, Mama, weil solche Liebe unverdient ist. Liebe muß verdient werden.«
»Bis du sie verdient hast, dauert es eine Weile, hier aber liebt man dich auch umsonst.«
Alle brachen plötzlich in Lachen aus.
»Sehen Sie, Mama, Sie wollten vielleicht gar nicht schießen, aber den Vogel haben Sie getroffen!« rief ich, ebenfalls lachend.
»Du bildest dir wohl wirklich ein, daß an dir etwas ist, weswegen man dich lieben muß«, fiel Tatjana Pawlowna wieder über mich her, »sie lieben dich nicht nur ohne Grund, sondern sie lieben dich trotz ihres Widerwillens!«
»Von wegen!« rief ich vergnügt aus. »Vielleicht hat mir jemand heute gesagt, daß er mich liebt, wissen Sie das?«
»Um sich über dich lustig zu machen!« fiel mir Tatjana Pawlowna plötzlich irgendwie unnatürlich erbost ins Wort, als hätte sie gerade darauf gewartet. »Aber ein feinfühliger Mensch, ganz besonders eine Frau, wird sich schon von deinem seelischen Schmutz abgestoßen fühlen. Du hast einen Scheitel auf dem Kopf, trägst feine Wäsche, Anzüge aus einem französischen Atelier, dabei ist das alles – nichts als Schmutz! Wer kleidet dich ein? Wer
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