Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
gehorchen wollten, so daß er mich schließlich bat, die Münzen herauszuholen und sie dem Leutnant zu geben; das kann ich nicht vergessen.
Er führte mich in ein kleines Lokal unten am Kanal. Nur wenige Gäste waren da. Es spielte ein verstimmter, heiserer Musikautomat, es roch nach speckigen Servietten. Wir nahmen in einer Ecke Platz.
»Du weißt das vielleicht nicht, manchmal, vor lauter Langeweile … vor lauter entsetzlicher seelischer Langeweile … suche ich gern solche Kloaken auf. Dieses ganze Interieur, diese gestotterte Arie aus der › Lucia ‹, diese Kellner in fast unanständig russischer Kostümierung, dieser Tabakqualm, diese Schreie aus dem Billardzimmer – das alles ist so banal und prosaisch, daß es beinahe ans Phantastische grenzt. Nun, weiter, mein Lieber? Dieser Sohn des Mars hat uns, glaube ich, an der interessantesten Stelle unterbrochen … Und jetzt kommt der Tee; ich mag den Tee hier … Stell dir vor, Pjotr Ippolitowitsch hat jetzt plötzlich damit begonnen, diesen anderen dort, diesen pockennarbigen Untermieter, davon zu überzeugen, daß im englischen Parlament im letzten Jahrhundert eigens eine Kommission von Juristen berufen wurde, um den ganzen Prozeß Christi vor dem Hohenpriester und Pilatus neu aufzurollen, einzig um zu erfahren, wie er jetzt, nach unseren geltenden Gesetzen, verlaufen wäre, und daß das Ganze mit großer Feierlichkeit, mit Advokaten, Staatsanwälten und allem, was dazugehört, zelebriert wurde und daß die Geschworenen zu einem Schuldspruch genötigt waren. Höchst merkwürdig! Dieser Dummkopf von Untermieter begann zu widersprechen, zu streiten, ärgerte sich und kündigte auf den nächsten Tag sein Zimmer … worauf die Frau des Vermieters in Tränen ausbrach, weil sie eine Einnahme verlor … Mais passons . In solchen Lokalen gibt es manchmal Nachtigallen. Kennst du eine alte Moskauer Anekdote à la Pjotr Ippolitowitsch? Eine Nachtigall singt in einem Moskauer Lokal, herein kommt ein Kaufmann von der Sorte ›Komm mir ja nicht in die Quere‹: ›Was kostet die Nachtigall?‹ – ›Hundert Rubel.‹ – ›Braten und auftragen.‹ Sie wurde gebraten und aufgetragen. ›Eine Scheibe für zehn Kopeken abschneiden.‹ Ich habe das Pjotr Ippolitowitsch bei Gelegenheit erzählt, aber er hat es mir nicht abgenommen und war sogar empört …«
Er hat noch lange gesprochen. Ich führe solche Fragmente nur als Beispiele an. Er fiel mir immer wieder ins Wort, sobald ich nur den Mund auftat, um mit meiner Erzählung anzufangen, und begann mit etwas Ausgefallenem und nicht zur Sache Gehörendem. Er sprach erregt und gut gelaunt; er lachte Gott weiß worüber und kicherte sogar, was ich bei ihm noch nie erlebt hatte. Er stürzte das Glas Tee in einem Zug herunter und schenkte sich das nächste nach. Jetzt verstehe ich: Er benahm sich damals wie ein Mensch, der einen kostbaren, interessanten und lang erwarteten Brief erhalten hat, den er vor sich hinlegt, um ihn absichtlich nicht zu öffnen, den er, im Gegenteil, immer wieder in den Händen dreht und wendet, das Couvert, das Siegel untersucht, zwischendurch ins Nebenzimmer geht, um etwas zu erledigen, kurz gesagt, der alles tut, um den spannendsten Augenblick hinauszuschieben, in dem sicheren Wissen, daß dieser ihm unter keinen Umständen entgehen wird – und das alles, um den Genuß zu steigern.
Ich erzählte ihm selbstverständlich alles, alles von Anfang an. Und ich erzählte vielleicht fast eine Stunde lang. Wie konnte es auch anders sein; es drängte mich schon lange danach zu sprechen. Ich begann mit unserer allerersten Begegnung, damals, beim Fürsten, gleich nach der Ankunft aus Moskau. Dann erzählte ich, wie alles nach und nach seinen Gang genommen hatte. Ich ließ nichts aus, es war mir unmöglich, etwas auszulassen: Er selber brachte mich darauf, er erriet, er soufflierte. Es gab Augenblicke, da glaubte ich, es geschähe etwas Phantastisches, so, als hätte er irgendwo dort dabeigesessen oder hinter der Tür gestanden, jedesmal, diese ganzen zwei Monate lang: Er kannte im voraus jede meiner Gesten, jedes meiner Gefühle. Ich empfand einen grenzenlosen Genuß bei dieser Beichte, die ich ihm ablegte, weil ich in ihm einen solche Innigkeit, ein so tiefes psychologisches Feingefühl entdeckte, ein solch erstaunliches Talent, aus einer Silbe das Ganze zu erraten. Er hörte zu, mitfühlend wie eine Frau. Vor allem verhielt er sich so, daß ich überhaupt nicht befangen war; zuweilen unterbrach er
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