Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
mich plötzlich wegen eines Details; oft unterbrach er mich und wiederholte nervös: »Vergiß die Kleinigkeiten nicht, vor allem – vergiß die Kleinigkeiten nicht, je kleiner der Strich, desto bedeutsamer kann er sein.« Auf diese Art unterbrach er mich mehrfach. Oh, ich habe selbstverständlich zuerst herablassend begonnen, herablassend ihr gegenüber, aber sehr bald kam die Wahrheit ans Licht. Ich habe ihm in aller Aufrichtigkeit erzählt, daß ich bereit gewesen wäre, niederzuknien und die Stelle des Bodens zu küssen, auf der ihr Fuß gestanden hatte. Das Beste, das Hellste war, daß er uneingeschränkt verstand, man könne »aus Angst um ein Dokument vergehen« und zugleich jenes reine und makellose Wesen bleiben, als welches sie sich heute vor mir gezeigt hatte. Er hatte vollstes Verständnis für den Ausdruck »Student«. Kurz vor dem Ende meiner Erzählung bemerkte ich, daß trotz seines gütigen Lächelns hin und wieder etwas äußerst Ungeduldiges in seinen Augen aufblitzte, etwas gleichsam Zerstreutes und Schroffes. Als ich auf das »Dokument« zu sprechen kam, überlegte ich im stillen: “Soll ich ihm die reine Wahrheit sagen oder nicht?” Und ich sagte sie nicht, unbeschadet aller Begeisterung. Das will ich mir einkerben, um mein Leben lang daran zu denken. Ich erklärte ihm die Sache auf die gleiche Weise wie ihr, das heißt, durch den Hinweis auf Kraft. Auf einmal glühten seine Augen. Eine sonderbare Falte zeigte sich auf seiner Stirn und verschwand, eine sehr düstere Falte.
»Erinnerst du dich, mein Lieber, genau an diesen Brief und daß Kraft ihn an der Kerze verbrannt hat? Du irrst dich nicht?«
»Ich irre mich nicht«, bekräftigte ich.
»Es geht darum, daß dieses Papier für sie äußerst wichtig ist, und sollte es sich heute in deinen Händen befinden, könntest du heute noch …« Aber was ich »könnte«, sprach er nicht aus. »Wie ist das, befindet es sich etwa jetzt nicht in deinen Händen?«
Ich fuhr innerlich richtig zusammen, nicht aber äußerlich. Äußerlich verriet ich mich nicht und zuckte nicht mit der Wimper; aber ich sträubte mich immer noch, meinen Ohren zu glauben.
»Was heißt ›nicht in deinen Händen‹? Jetzt in meinen Händen? Aber Kraft hat es doch damals verbrannt!«
»Ja?« Dabei richtete er einen glühenden, starren Blick auf mich, einen unvergeßlichen Blick. Übrigens lächelte er. Aber seine ganze Gutmütigkeit, alles Mitfühlende von vorhin war plötzlich aus seinem Gesicht verschwunden. Es blieb etwas Unbestimmtes und Niedergeschlagenes zurück; er wirkte mehr und mehr zerstreut. Hätte er sich damals besser beherrscht, so, wie er sich bis zu diesem Augenblick beherrscht hatte, dann hätte er mir diese Frage nach dem Dokument nicht gestellt; er stellte sie mir gewiß nur deswegen, weil er selbst außer sich war. Übrigens spreche ich erst jetzt darüber, damals habe ich die mit ihm vorgegangene Veränderung nicht so schnell wahrgenommen: Ich flog immer noch dahin, und meine Seele war immer noch voll derselben Musik. Aber die Erzählung war zu Ende; ich sah ihn an.
»Wunderlich«, sagte er plötzlich, als ich schon alles bis zum letzten Komma vor ihm ausgebreitet hatte, »ganz eigentümlich, mein Freund: Du sagst, daß du von drei bis vier dort gewesen bist und daß Tatjana Pawlowna nicht zugegen war?«
»Genau, von drei bis halb fünf.«
»Also, stell dir vor, ich habe bei Tatjana Pawlowna genau um halb vier vorgesprochen, auf die Minute, und sie hat mich in der Küche empfangen: Ich komme ja fast immer über die Hintertreppe.«
»Sie hat Sie also in der Küche begrüßt?« rief ich und fuhr vor Staunen förmlich zurück.
»Ja, und hat mich wissen lassen, sie könne mich nicht empfangen; ich blieb nur ein paar Minuten, nur, um sie zum Essen einzuladen.«
»Vielleicht war sie gerade in diesem Moment nach Hause gekommen?«
»Das weiß ich nicht; übrigens – nein, natürlich nicht. Sie trug ihre Hausjacke. Es war Punkt halb vier.«
»Aber … hat Tatjana Pawlowna Ihnen nicht gesagt, daß ich da war?«
»Nein, sie hat mir nicht gesagt, daß du da warst … Sonst hätte ich das gewußt und dich nicht danach gefragt.«
»Hören Sie, das ist doch sehr wichtig …«
»Ja … es kommt eben auf den Standpunkt an; du bist sogar blaß geworden, mein Lieber, was ist denn daran so besonders wichtig?«
»Man hat mich wie ein Kind zum besten gehalten!«
»Sie hat sich einfach vor deiner ›Entflammbarkeit‹ gefürchtet, das hat sie dir doch
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