Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
immer achten. Mein eigenes Gefühl achten. O ja, sie hat es zugelassen, daß ich vor Tatjana mein Herz ausschüttete, sie hat Tatjana zugelassen, sie wußte, daß sie in der Nähe sitzt und lauscht (weil es für Tatjana einfach unmöglich war, nicht zu lauschen), sie wußte, daß Tatjana über mich lacht; das ist furchtbar, ganz furchtbar! Aber … aber wenn es unmöglich war, dies zu vermeiden? Was hätte sie in ihrer damaligen Situation tun sollen, und wie darf man es ihr ankreiden? Habe ich sie selbst vorhin nicht wegen Kraft belogen, habe ich sie denn nicht auch hintergangen, weil es mir ebenfalls unmöglich war, es zu vermeiden und ich unbeabsichtigt, unschuldig lügen mußte?” »Mein Gott!« rief ich plötzlich, qualvoll errötend. »Und was habe ich gerade selbst getan: Habe ich sie nicht vor eben diese Tatjana gezerrt, habe ich denn nicht sofort alles Werssilow erzählt? Übrigens, was rede ich da? Es ist ein großer Unterschied. Da ging es nur um das Dokument; ich habe eigentlich Werssilow nur von dem Dokument erzählt, weil es sonst nichts zu erzählen gab und auch nichts geben konnte. Habe ich ihn nicht sofort darauf aufmerksam gemacht und gerufen, daß es ›nichts geben konnte‹? Er ist ein verständnisvoller Mensch. Hm … Aber was für ein Haß gegen diese Frau lebt in seinem Herzen sogar noch heute! Und was für ein Drama muß sich damals zwischen ihnen abgespielt haben und aus welchem Grund? Natürlich war es Ehrgeiz! Werssilow kann irgend eines anderen Gefühls als eines grenzenlosen Ehrgeizes nicht fähig sein! «
Ja, dieser letzte Gedanke tauchte damals in mir auf, aber ich hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Solche Gedanken, einer nach dem anderen, zogen folgerichtig durch meinen Kopf, und ich war damals ehrlich mit mir selber: Ich machte mir nichts vor und wollte mich nicht selbst überlisten; und wenn ich mir damals, in jener Minute, keinen klaren Begriff über manches gemacht habe, war es nur darum, daß mein Verstand dazu nicht ausreichte, nicht aber weil ich mir selbst den Jesuiten vorspielte.
Ich kehrte in einem furchtbar erregten Zustand nach Hause zurück, aber, aus einem mir unersichtlichen Grunde, furchtbar guter Laune, wenn auch ziemlich verwirrt. Aber ich scheute vor einer Analyse zurück und versuchte nach Kräften, mich zu zerstreuen. Als erstes ging ich zu meiner Wirtin: Tatsächlich, zwischen ihr und ihrem Mann war ein heftiger Streit ausgebrochen. Sie war eine hochgradig schwindsüchtige Beamtengattin, vielleicht gar nicht böse, aber wie alle Schwindsüchtigen außerordentlich launisch. Ich bemühte mich sofort, sie zu versöhnen, suchte den Mieter auf, einen ungeschliffenen pockennarbigen Dummkopf, einen außerordentlich ehrgeizigen Bankbeamten, Tscherwjakow, den ich selbst nicht ausstehen konnte, aber mit dem ich dennoch sehr gut auskam, weil ich gemein genug war, mich mit ihm zusammen über Pjotr Ippolitowitsch lustig zu machen. Es gelang mir sofort, ihm den angedrohten Auszug auszureden, zumal er selbst sich kaum entschließen würde, tatsächlich umzuziehen. Zu guter Letzt gelang es mir auch, die Wirtin endgültig zu beruhigen, und darüber hinaus, das Kissen unter ihrem Kopf zu ihrer vollen Zufriedenheit aufzuschütteln. »So etwas bringt Pjotr Ippolitowitsch niemals fertig«, sagte sie daraufhin schadenfroh. Dann machte ich mich in der Küche mit ihren Senfwickeln zu schaffen und fertigte eigenhändig zwei hervorragende Senfpflaster an. Der arme Pjotr Ippolitowitsch sah mir zu und beneidete mich, aber ich ließ nicht zu, daß er auch nur einen Finger rührte, und wurde dafür buchstäblich mit Tränen der Dankbarkeit belohnt. Und da, ich erinnere mich noch genau, hatte ich plötzlich von all dem Treiben genug und wußte plötzlich, daß ich mich keineswegs aus Herzensgüte um die Kranke gekümmert hatte, sondern einfach so, aus irgendeinem ganz anderen Grund.
Ich wartete nervös auf Matwej: Ich hatte mir vorgenommen, an diesem Abend mein Glück zum letzten Mal zu versuchen und … empfand außer einer Euphorie den furchtbaren Drang zu spielen; sonst wäre es mir unerträglich gewesen. Wenn ich ihm nicht nachgegeben hätte, hätte ich es vielleicht nicht ausgehalten und wäre doch zu ihr gefahren. Matwej mußte jeden Augenblick erscheinen, aber plötzlich öffnete sich die Tür, und eine völlig unerwartete Besucherin, Darja Onissimowna, trat ein. Ich runzelte die Stirn und wunderte mich. Sie kannte meine Adresse, weil sie einmal im Auftrag meiner Mutter bei mir
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