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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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den empfohlen? Wer ist das überhaupt?«
    »Irgend so ein Dolgorukij.«
    »Fürst Dolgorukij?«
    »Den hat Fürst Sokolskij eingeführt«, rief jemand.
    »Hören Sie, Fürst«, rief ich ihm über den Tisch zu, völlig außer mir, »die halten ausgerechnet mich für einen Dieb, während man mich doch hier gerade bestohlen hat! Sagen Sie es ihnen doch, sagen Sie ihnen, wer ich bin!«
    Und da geschah das Schrecklichste von allem, was mir an diesem Tag widerfahren ist … sogar in meinem ganzen Leben: Der Fürst verleugnete mich. Ich sah, wie er die Achseln zuckte und als Antwort auf die Fragen, mit denen man ihn überschüttete, klar und scharf antwortete:
    »Ich übernehme für niemand eine Verantwortung. Ich bitte, mich in Ruhe zu lassen.«
    Währenddessen stand Aferdow mitten unter den Versammelten und forderte laut, ihn zu durchsuchen. Er stülpte eigenhändig seine Taschen um. Aber auf seine Aufforderung rief man ihm zu: »Nein, nein, der Dieb ist bekannt!« Zwei herbeigerufene Diener packten mich von hinten bei den Armen.
    »Ich lasse mich nicht durchsuchen, das erlaube ich nicht!« rief ich und versuchte, mich loszureißen.
    Aber man schleppte mich ins Nebenzimmer, um mich dort, mitten in der Menschenmenge, bis auf die letzte Falte zu durchsuchen. Ich schrie und versuchte, mich zu widersetzen.
    »Er hat es weggeworfen, bestimmt, man muß auf dem Boden suchen«, entschied jemand.
    »Aber wie soll man jetzt auf dem Boden suchen!«
    »Er muß es bestimmt unter den Tisch geworfen haben!«
    »Keine Spur mehr, natürlich …«
    Man führte mich hinaus, aber es gelang mir, in der Tür stehenzubleiben und in sinnloser Wut durch den ganzen Saal zu brüllen:
    »Roulette ist polizeilich verboten. Heute noch werde ich Sie alle anzeigen!«
    Man brachte mich hinunter, kleidete mich an und … öffnete vor mir die Tür auf die Straße.

Neuntes Kapitel
    I
    Der Tag hatte mit einer Katastrophe geendet, aber die Nacht stand noch bevor, und einiges aus dieser Nacht habe ich behalten.
    Ich glaube, es war kurz nach Mitternacht, als ich mich auf der Straße fand. Die Nacht war klar, still und frostig. Ich lief beinahe, ich hatte es furchtbar eilig, aber – durchaus nicht nach Hause. “Was soll ich zu Hause? Kann es denn jetzt noch ein Zuhause geben? Zu Hause wird gelebt, ich werde morgen erwachen, um zu leben – ist denn das jetzt noch möglich? Das Leben ist zu Ende, es ist jetzt völlig unmöglich zu leben.” Also irrte ich durch die Straßen, ohne darauf zu achten, wohin ich ging, und auch ohne zu wissen, warum ich es so eilig hatte. Es war mir sehr heiß, und ich schlug immer wieder meinen schweren Waschbärenpelz auf. “Jetzt kann” – so kam es mir damals vor – “keine einzige Handlung noch irgendeinen Sinn haben.” Sonderbar: Alles, was mich umgab, sogar die Luft, die ich atmete, schien mir auf einmal von einem anderen Planeten zu sein, ganz so, als befände ich mich plötzlich auf dem Mond. All das – die Stadt, die Passanten, das Trottoir, auf dem ich dahineilte –, all das gehörte nicht mehr zu mir. “Aha – das ist der Schloßplatz, und das ist – die Isaaks-Kathedrale”, fuhr es mir durch den Kopf, “aber nun geht mich das nichts mehr an”, alles war irgendwie fremd, all das gehörte plötzlich nicht mehr zu mir. “Was soll’s? Was bedeuten mir jetzt Lisa und Mama? Alles ist zu Ende, alles ist auf einen Schlag zu Ende, außer dem einzigen: Daß ich ein Dieb bin – bis an das Ende der Zeit.”
    “Wie soll ich beweisen, daß ich kein Dieb bin? Ist das jetzt überhaupt noch möglich? Nach Amerika gehen? Und was beweise ich damit? Werssilow ist der erste, der glauben würde, ich hätte gestohlen! Die ›Idee‹? Welche ›Idee‹? Was ist nun die ›Idee‹ noch wert? Wenn ich nach fünfzig oder hundert Jahren über die Straße gehe, wird sich immer noch ein Mensch finden, der mit dem Finger auf mich zeigt: ›Hier, der da – der ist ein Dieb. Er hat ‘seine Idee’ damit begonnen, daß er Geld beim Roulette geklaut hat.‹ …”
    War ich wütend? Ich weiß nicht, vielleicht war ich es. Sonderbar, in mir lebte schon immer, vielleicht schon seit den ersten Kindertagen, ein besonderer Zug: Wenn man mir einmal etwas Böses, bis zum Rand und endgültig, angetan, wenn man mich aufs schlimmste beleidigt hatte, stellte sich bei mir auf der Stelle der unstillbare Wunsch ein, mich passiv dieser Beleidigung zu unterwerfen und sogar den Wünschen des Beleidigers zuvorzukommen: “Bitte sehr, Sie

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