Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
langen Stapel, ganz wie in einer Brennholzhandlung, der um mehr als einen Saschen die Mauer überragte. Ich hielt plötzlich an und überlegte. In einer Tasche hatte ich Wachszündhölzchen, in einer kleinen, silbernen Streichholzdose. Ich wiederhole, ich war mir dessen, was ich überlegt und beabsichtigt hatte, damals voll bewußt, und ich kann mich heute noch daran erinnern, aber weshalb ich es tun wollte – das weiß ich nicht, das weiß ich ganz und gar nicht. Ich weiß nur noch, daß mich plötzlich die größte Lust dazu überkam. “Auf die Mauer steigen ist nicht schwer”, überlegte ich; ausgerechnet da fand sich in der Mauer ein Tor, das gewiß seit Monaten fest verschlossen war. “Wenn man den Fuß unten auf den Vorsprung setzt”, sinnierte ich weiter, “und sich an der oberen Torkante festhält, kann man auf die Mauer steigen – es wird keinem auffallen, es ist weit und breit kein Mensch, Totenstille! Und dann kann ich mich rittlings auf die Mauer setzen und in aller Seelenruhe das Holz anzünden, sogar ohne hinunterzusteigen, weil das Holz dicht an der Mauer liegt. In der Kälte wird das Holz besser brennen. Ich brauche nur mit der Hand einen Birkenscheit herauszuziehen … aber ich brauche das Scheit gar nicht herauszuziehen: Ich kann, direkt, immer noch auf der Mauer sitzend, mit der Hand die Rinde von einem Birkenscheit abreißen und mit dem Streichholz anzünden, anzünden und zwischen die Scheite schieben – und es brennt. Und ich springe hinunter und suche das Weite; ich werde nicht einmal rennen, weil man das Feuer lange nicht entdecken wird …” So legte ich mir alles zurecht und – war plötzlich restlos entschlossen. Ich empfand ein außerordentliches Vergnügen, eine Lust, und begann zu klettern. Ich konnte ausgezeichnet klettern: Gymnastik war auf dem Gymnasium meine Spezialität gewesen, aber nun trug ich Galoschen, und die Sache erwies sich als schwieriger. Dennoch gelang es mir, mich mit einer Hand an einem kaum zu ertastenden Vorsprung festzuklammern und mich hochzuziehen, ich holte schon mit dem anderen Arm aus, um mich an der Mauerkante festzuhalten, als ich plötzlich abrutschte und rücklings stürzte. Ich nehme an, daß ich mit dem Hinterkopf aufschlug und vermutlich ein bis zwei Minuten besinnungslos auf dem Boden lag. Als ich wieder zu mir kam, zog ich mechanisch meinen Pelz fester um mich, weil ich plötzlich unerträgliche Kälte spürte, und kroch, immer noch völlig benommen, in die Ecke zwischen Torflügel und Mauervorsprung. Meine Gedanken verwirrten sich, und ich bin wahrscheinlich sehr bald eingenickt. Ich erinnere mich heute, daß ich wie im Traum plötzlich einen tiefen, mächtigen Glockenschlag hörte, dem ich mit Genuß zu lauschen begann.
II
Die Glocke schlug gleichmäßig und anhaltend, einmal in zwei oder sogar drei Sekunden, aber es war kein Sturmläuten, sondern ein angenehm schwingender Klang, und plötzlich erkannte ich, daß mir dieser Klang vertraut war, daß man bei Nikóla läutete, in der roten Kirche gegenüber von Touchard – einer altehrwürdigen Moskauer Kirche, die meines Wissens noch zu Zeiten von Alexej Michajlowitsch erbaut worden war, einer reich verzierten, kuppelreichen, säulengeschmückten –, und daß jetzt die Osterwoche gerade vorüber ist und an den schmächtigen jungen Birken in Touchards Vorgarten schon die neugeborenen grünen Blättchen zittern. Die helle Spätnachmittagssonne gießt ihre schrägen Strahlen in unser Klassenzimmer, aber bei mir, in meiner winzigen Kammer, links, wohin Touchard mich schon vor einem Jahr von den »Grafen- und Senatorenkindern« verbannt hatte, sitzt ein Gast. Ja, ich, der weder Eltern noch ein Zuhause hatte, bekam plötzlich Besuch, zum ersten Mal, seit ich bei Touchard war. Ich habe diese Besucherin erkannt, sobald sie das Zimmer betrat: Es war Mama, obwohl ich sie seit damals, als sie mich zum Abendmahl in die Dorfkirche brachte und ein Täubchen quer durch die Kuppel flatterte, kein einziges Mal gesehen hatte. Wir beide saßen da, und ich starrte sie eigentümlich an. Später, nach vielen Jahren, habe ich erfahren, daß sie damals, als Werssilow sich plötzlich ins Ausland begeben und sie allein gelassen hatte, sich selbständig, trotz ihrer kümmerlichen Mittel, beinahe heimlich vor den Menschen, deren Obhut man sie überlassen hatte, nach Moskau aufmachte, einzig und allein, um mich wiederzusehen. Ebenso eigentümlich war es, daß sie, nachdem sie Touchard begrüßt und gesprochen
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