Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Eigenwillen liebgewonnen hatte, gerade weil er charakterlos war und vom ersten Wort und der ersten Stunde an bereit, sich zu unterwerfen. So etwas geschieht gleichsam von selbst, aus der Tiefe des Herzens, ohne Berechnung; aber eine solche Liebe, eine starke Liebe zu einem Schwachen ist mitunter unvergleichlich heftiger und qualvoller als die Liebe zwischen ebenbürtigen Charakteren, weil man unwillkürlich die Verantwortung für seinen schwachen Freund auf sich nimmt. Ich wenigstens denke so. Unsere ganze Familie umgab sie von Anfang an mit der zärtlichsten Fürsorge, insbesondere Mama; aber das machte sie nicht milder. Sie reagierte nicht auf die Anteilnahme und lehnte sozusagen jeden Beistand ab. Mit Mama hat sie anfangs noch gesprochen, wurde aber von Tag zu Tag wortkarger, schroffer und sogar härter. Am Anfang hat sie sich Rat bei Werssilow geholt, erkor aber mit der Zeit Wassin zum Ratgeber und Beistand, was ich zu meiner Verwunderung erst nachträglich erfuhr … Sie suchte täglich Wassin auf, sie sprach im Gericht vor, beim Regimentskommandeur des Fürsten, bei den Anwälten und beim Ermittlungsrichter; zuletzt war sie tagelang außer Hause. Selbstverständlich besuchte sie täglich, manchmal sogar zweimal täglich, auch den Fürsten, der im Gefängnis saß, in der Adelsabteilung, aber diese Besuche fielen Lisa, wie ich mich später überzeugen konnte, außerordentlich schwer. Natürlich: Welcher Dritte könnte je die Beziehung zweier Liebenden bis auf den Grund durchschauen? Aber mir ist bekannt, daß der Fürst sie immer und immer wieder empfindlich verletzte, und warum? Eigentümlich: aus Eifersucht, aus ständiger Eifersucht. Aber davon später; jetzt möchte ich nur noch einen Gedanken beifügen: Es ist kaum zu entscheiden, wer von den beiden den anderen empfindlicher quälte. Während Lisa in unserer Gegenwart auf ihren Helden so stolz war, verhielt sie sich ihm gegenüber, unter vier Augen, völlig anders, was ich mit Bestimmtheit aufgrund einiger Tatsachen annehme, die ich übrigens im weiteren Verlauf ebenfalls anführen werde.
Also, was meine Gefühle und meine Beziehungen zu Lisa betraf, so war alles, was von außen zu sehen war, nur Verstellung und eifersüchtiger Schein von beiden Seiten, denn niemals liebten wir uns stärker als in dieser Zeit. Ich möchte noch hinzufügen, daß Lisa Makar Iwanowitsch gleich nach seinem Auftauchen, sobald ihr erstes Erstaunen und ihre erste Neugier gestillt waren, aus irgendeinem Grunde fast geringschätzig, jedenfalls von oben herab, sogar hochmütig behandelte. Es sah so aus, als wenn sie ihn absichtlich nicht der geringsten Aufmerksamkeit würdigte.
Da ich mir, wie im letzten Kapitel geschildert, geschworen hatte zu »schweigen«, gedachte ich natürlich in der Theorie, das heißt in meinen Träumen, Wort zu halten. Oh, mit Werssilow, zum Beispiel, war ich bereit, mich eher über Zoologie oder die römischen Kaiser zu unterhalten als zum Beispiel über sie oder zum Beispiel über jene wichtigste Zeile in seinem Brief an sie, in der er sie wissen ließ, »das Dokument wurde nicht verbrannt, sondern ist unversehrt und wird zum Vorschein kommen« – eine Zeile, über die ich mir unverzüglich den Kopf zu zerbrechen begann, sobald ich nach meiner Krankheit das Bewußtsein wiedererlangt hatte und zu mir gekommen war. Aber wehe! Bei den ersten Schritten in der Praxis, beinahe schon vor diesen ersten Schritten, wurde ich darüber belehrt, wie schwer, ja, wie unmöglich es ist, an solchen Vorentschlüssen festzuhalten: Schon am nächsten Tag nach meiner ersten Bekanntschaft mit Makar Iwanowitsch versetzte mich ein unerwarteter Umstand in eine fürchterliche Erregung.
II
In diese fürchterliche Erregung wurde ich versetzt durch den überraschenden Besuch von Nastassja Jegorowna, der Mutter der verstorbenen Olja. Von Mama hatte ich bereits gehört, daß sie während meiner Krankheit zweimal dagewesen sei und große Anteilnahme für meine Krankheit an den Tag gelegt habe. Ob diese »gute Frau«, wie meine Mutter sie immer nannte, meinetwegen gekommen war oder ob sie einfach, nach einer inzwischen bestehenden Gewohnheit, meine Mutter besuchte, hatte ich nicht gefragt. Mama erzählte mir stets von allen häuslichen Angelegenheiten, gewöhnlich, wenn sie mit der Suppe kam, um mich zu füttern (solange ich noch nicht selbst essen konnte) und um mich zu unterhalten. Ich dagegen versuchte hartnäckig zu zeigen, daß ich mich für alle diese Nachrichten nicht
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