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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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liebes Gesicht und ihre eingefallenen Wangen. Sie bückte sich zu mir herab und drückte ihre Stirn an die meine.
    »Christus sei mit dir«, sagte sie plötzlich, richtete sich auf und strahlte über das ganze Gesicht. »Werde wieder gesund. Ich werde es dir hoch anrechnen. Er ist krank, sehr krank … Das Leben liegt in Gottes Hand … Ach, was habe ich jetzt gesagt, das darf ja nicht sein! …«
    Sie ging. Sehr, so sehr hat sie ihr Leben lang mit Furcht und Zittern und in tiefer Andacht ihren angetrauten Gatten und Pilger Makar Iwanowitsch verehrt, der ihr großmütig und ein für allemal vergeben hatte.

Zweites Kapitel
    I
    Aber Lisa hatte ich nicht vergessen, Mama hatte sich geirrt. Die hellhörige Mutter spürte, daß zwischen Bruder und Schwester das Verhältnis gewissermaßen abgekühlt war, aber es handelte sich dabei nicht um Liebe, sondern vielmehr um Eifersucht. Im Hinblick auf das Weitere möchte ich dies kurz erläutern.
    Bei der armen Lisa hatte sich seit der Verhaftung des Fürsten ein gewisser hochmütiger Stolz eingestellt, ein krasser Hochmut, der fast unerträglich war, aber jeder im Hause kannte die Wahrheit und das Maß ihres Leidens, und wenn ich am Anfang ihre Manier, mit uns umzugehen, übelnahm und sie mir nicht gefallen ließ, so lag das einzig und allein an meiner kleinlichen Reizbarkeit, die durch die Krankheit um ein Vielfaches verstärkt worden war – so denke ich heute darüber. Ich hatte nie aufgehört, Lisa zu lieben, im Gegenteil, ich liebte sie immer mehr. Nur weigerte ich mich, sie als erster anzusprechen, wiewohl es mir völlig klar war, daß sie um nichts auf der Welt den ersten Schritt tun würde.
    Die Sache war die, daß Lisa, sobald die Geschichte mit dem Fürsten bekanntgeworden war, sich unmittelbar nach seiner Verhaftung als erstes beeilte, uns und jedem anderen gegenüber eine Haltung anzunehmen, als wäre auch der bloße Gedanke an Mitleid oder Trost ihr gegenüber völlig ausgeschlossen, ebensowenig wie ein Versuch, den Fürsten zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil, sie schien sich – wobei sie jeder Erklärung oder Diskussion aus dem Wege ging – stets mit der Handlungsweise ihres unglückseligen Bräutigams zu brüsten, als ginge es um die höchste Heldentat. Es war, als wiederholte sie vor uns allen jeden Augenblick (wie gesagt: ohne ein einziges Wort auszusprechen): “Niemals würde jemand von euch so handeln, niemals würde jemand von euch sich ausliefern, nur, um den Forderungen der Pflicht zu genügen; niemand von euch hat ein so empfindliches und reines Gewissen! Und was seine Taten angeht – wer dürfte behaupten, keine Übeltaten auf seinem Gewissen zu haben? Sie werden nur von allen verheimlicht, während dieser Mann sich lieber ins Verderben stürzte, denn als Unwürdiger in seinen eigenen Augen dazustehen.” Das sollte offenbar jede ihrer Gesten ausdrücken. Ich weiß es nicht, aber ich hätte mich wohl an ihrer Stelle genauso verhalten. Ich weiß auch nicht, ob sie genau dieselben Gedanken in ihrem Herzen trug, ganz im stillen; ich vermute, daß es nicht der Fall war. Mit der anderen, der klaren Hälfte ihres Verstandes mußte sie unweigerlich die ganze Unwürdigkeit ihres »Heroen« durchschaut haben; denn wer würde heute nicht zustimmen, daß dieser unglückliche und sogar großmütige Mensch zugleich in höchstem Maße nichtswürdig war? Gerade diese Überheblichkeit und eine Art Aggressivität uns allen gegenüber, gerade ihr ständiger Argwohn, wir könnten über ihn anders denken – deuteten auch darauf hin, daß in den geheimsten Tiefen ihres Herzens sich noch ein anderes Urteil über ihren unglücklichen Freund gebildet haben könnte. Jedoch beeile ich mich, in meinem eigenen Namen hinzuzufügen, daß sie das Recht wenigstens zur Hälfte auf ihrer Seite hatte. Es war sogar verzeihlich, daß sie, im Gegensatz zu uns allen, bei ihrem endgültigen Urteil schwankte. Auch ich muß gestehen, daß ich noch heute, da alles bereits längst Vergangenheit ist, bei der endgültigen Einschätzung dieses Unglücklichen, der uns allen ein solches Rätsel aufgegeben hat, völlig unentschieden bin.
    Nichtsdestoweniger entfesselte sie in unserem Haus etwas wie eine kleine Hölle. Lisa, die so tief liebte, mußte auch ebenso tief leiden. Ihrem Charakter entsprechend zog sie es vor, wortlos zu leiden. Ihr Charakter war dem meinen ähnlich, das heißt, sie war eigenwillig und stolz, und ich dachte stets, damals und jetzt, daß sie den Fürsten aus

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