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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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mündliche, die gedankliche, denn dann werden alle, die sein lebendiges Antlitz gekannt haben, auch dahingegangen sein. Und dann wird auf dem Gottesacker das Gras seinen Hügel überwuchern, der weiße Stein verwittern, und alle Menschen, auch seine Nachkommen, werden sogar seinen Namen vergessen, denn nur wenige Namen bleiben im Gedächtnis der Menschen erhalten – aber was tut das schon! Mögen sie mich vergessen, die Lieben, aber ich werde sie aus meinem Grab weiterlieben! Ich vernehme, Kinderchen, eure heiteren Stimmen, ich vernehme eure Schritte an den teuren Grabhügeln der Väter am Allerseelentag; lebt einstweilen in der Sonne, freut euch, und ich werde zu Gott für euch beten und als Traum zu euch kommen … Gleichviel, die Liebe bleibt auch im Tod! …«
    Die Hauptsache – ich fieberte ebenso wie er; anstatt hinauszugehen oder ihm beruhigend zuzusprechen oder ihm vielleicht beim Hinlegen behilflich zu sein, weil er so gut wie im Delirium war, packte ich ihn plötzlich bei der Hand, beugte mich zu ihm, drückte die Hand ganz fest und sagte, erregt flüsternd und mit Tränen im Herzen:
    »Ich freue mich, daß Sie da sind. Ich habe vielleicht schon lange auf Sie gewartet. Ich liebe keinen von ihnen; sie wissen nichts von Wohlgestalt … Ich werde ihnen nicht folgen, ich weiß nicht, wohin ich gehen werde, ich werde mit Ihnen gehen …«
    Aber glücklicherweise kam plötzlich Mama herein, ich weiß nicht, womit es sonst geendet hätte. Sie kam herein, noch deutlich verschlafen und aufgeregt, Arzneiflasche und Suppenlöffel in der Hand; als sie uns sah, rief sie aus:
    »Ich habe es ja gewußt! Mich mit den Chinintropfen verspätet, und nun hat er hohes Fieber! Ich habe verschlafen, Makar Iwanowitsch, mein Guter!«
    Ich erhob mich und ging hinaus. Sie verabreichte ihm doch noch die Arznei und brachte ihn zu Bett. Ich legte mich in das meine, aber in großer Erregung. Ich war in der höchsten Spannung zurückgekehrt und konnte an nichts anderes denken als an diese Begegnung. Was ich damals von ihm erwartet habe – weiß ich nicht. Natürlich, meine Überlegungen waren zusammenhanglos, und in meinem Kopf tauchten keine Gedanken, sondern Gedankenfragmente auf. Ich lag mit dem Gesicht zur Wand und entdeckte plötzlich in der Ecke den grell leuchtenden Fleck der untergehenden Sonne, denselben Fleck, den ich vorhin unter Verwünschungen erwartet hatte, und ich weiß noch, wie meine ganze Seele auf einmal frohlockte und wie ein neues Licht mein ganzes Herz zu erfüllen schien. Ich gedenke dieses süßen Augenblicks und will ihn nie vergessen. Damals besserte sich meine Gesundheit fortschreitend, also konnte ein solcher Aufschwung eine natürliche Folge meines Nervenzustands sein; aber an jene lichte Hoffnung glaube ich auch heute noch – gerade das wollte ich hier notieren und in Erinnerung rufen. Natürlich stand für mich schon damals fest, daß ich nicht mit Makar Iwanowitsch auf Pilgerschaft gehen würde, daß ich selbst nicht wußte, worin dieses neue Streben bestand, das mich erfaßte, aber ein bestimmtes Wort hatte ich schon ausgesprochen, und wenn auch im Delirium: »Sie wissen nichts von Wohlgestalt.« “Natürlich”, dachte ich erschüttert, “von diesem Augenblick an suche ich ‘Wohlgestalt’, von der sie nichts wissen, und deswegen werde ich sie verlassen.”
    Etwas raschelte hinter mir, und ich drehte mich um: Mama stand dort, sie beugte sich über mich und suchte mit schüchternem Interesse meinen Blick. Ich ergriff plötzlich ihre Hand.
    »Warum haben Sie, Mama, mir nichts von diesem teuren Gast erzählt?« fragte ich plötzlich, ohne es selbst auch nur zu ahnen, daß ich so fragen würde. Alle Unruhe verschwand im Nu aus ihrem Gesicht, Freude schien darin aufzuleuchten. Aber sie antwortete mir nichts darauf, außer dem einzigen Wort:
    »Vergiß auch Lisa nicht, Lisa; du hast Lisa vergessen!«
    Sie sprach es in einem Atemzug, errötete und wollte sofort gehen, weil sie um nichts auf der Welt über Gefühle reden mochte und mir in dieser Beziehung sehr ähnlich war, das heißt keusch und leicht verlegen; außerdem wäre es ihr wohl nicht angenehm gewesen, sich mit mir über das Thema Makar Iwanowitsch zu unterhalten; uns genügte schon, was wir uns durch Blicke sagen konnten. Und ausgerechnet ich, der jede Gefühlsduselei haßte, ausgerechnet ich hielt sie an der Hand gewaltsam fest; ich sah ihr liebevoll in die Augen, lachte leise und zärtlich und strich mit der anderen Hand über ihr

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