Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Schließlich brach ein plötzliches Gelächter aus: Tatjana Pawlowna hatte den Arzt, ich weiß nicht aus welchem Anlaß, einen Atheisten genannt: »Na ja, ihr seid doch alle, ihr Medikaster, einer wie der andere, Gottlose!«
»Makar Iwanowitsch!« rief der Arzt, indem er täppisch den Beleidigten und Beistandsuchenden spielte. »Bin ich ein Gottloser oder nicht?«
»Du sollst ein Gottloser sein? Nein? Du bist kein Gottloser«, antwortete der alte Mann gemessen und sah ihn aufmerksam an, »nein, Gott sei Dank!« er schüttelte den Kopf. »Du bist ein heiterer Mensch.«
»Und wer heiter ist, der soll auch kein Gottloser sein?« bemerkte der Arzt ironisch.
»Das ist auf seine Art – ein Gedanke«, bemerkte Werssilow, aber ohne im geringsten zu lachen.
»Das ist ein starker Gedanke!« rief ich unwillkürlich, betroffen von dieser Idee. Der Arzt aber blickte fragend von einem zum anderen.
»Vor diesen gelehrten Leuten, vor diesen Professoren« (wahrscheinlich hatte man sich vorher über die Professoren unterhalten), begann Makar Iwanowitsch mit gesenktem Blick, »habe ich mich am Anfang zu Tode gefürchtet: Mein ganzer Mut hat mich vor ihnen verlassen, dieweil ich mich am ärgsten vor einem Gottlosen fürchtete. Die Seele in mir, dachte ich, ist einzig; soll ich sie verderben, werd ich keine andere finden; nun, mit der Zeit aber hab ich wieder Mut gefaßt: ‘Was soll’s’, denk ich, ‘die sind doch keine Götter, sondern Menschen wie wir, gleich uns Geschaffene.’ Ja, meine Neugierde war groß: ‘Ich will wissen, was das ist, Gottlosigkeit.’ Aber, mein Freund, auch diese Neugierde ist mir vergangen.«
Er verstummte, aber mit der Absicht fortzufahren, immer mit demselben stillen und würdevollen Lächeln. Es gibt eine Treuherzigkeit, die sich jedem und allen anvertraut, ohne Spott zu argwöhnen. Solche Menschen sind immer naiv in ihrer Bereitschaft, das Kostbarste ihres Herzens vor jedermann auszubreiten. Aber in Makar Iwanowitsch glaubte ich, etwas anderes zu erleben, was ihn zum Sprechen veranlaßte, nicht nur die Unschuld der Treuherzigkeit: Dahinter steckte ein Bekehrungswille. Mit einigem Vergnügen beobachtete ich ein gewisses, vielleicht sogar verschmitztes Lächeln, mit dem er sich an den Arzt und vielleicht auch an Werssilow wandte. Das Gespräch war offensichtlich die Fortsetzung ihrer vorhergehenden Dispute während der letzten Woche. Aber unglücklicherweise fiel darin jenes schicksalhafte Wort, das mich gestern so elektrisiert hatte und das mich nun zu einem Ausfall verleitete, den ich heute noch bedaure.
»Einen Gottlosen«, fuhr der alte Mann gesammelt fort, »fürchte ich vielleicht heute noch; aber weißt du, Freund Alexander Semjonowitsch, einem Gottlosen bin ich nicht ein einziges Mal begegnet, begegnet bin ich statt seiner den Eitlen – so muß man sie besser nennen. Es gibt viele solche Menschen, man kann es kaum fassen, was für Menschen; große und kleine, dumme und gelehrte, sogar Menschen aus dem einfachen Stand – und alle sind eitel. Dieweil sie lesen und ihr Leben lang deuten, sind sie der süßen Bücherweisheit voll, bleiben aber selbst in Zweifel und Unvermögen, etwas zu entscheiden. Manch einer zerstreut sich selber bis auf den letzten Rest und kann auf sich selbst nicht mehr achtgeben. Ein anderer wird härter als Stein, und in seinem Herzen gären die Träume; noch ein anderer ist gefühllos und leichtfertig und kennt nichts Besseres als Spotten und Lachen. Manch einer las aus den Büchern nur die Blümchen heraus, und auch die nur nach eigenem Dafürhalten; selbst aber ist er eitel geblieben und bringt keinen Entschluß zustande. Und was ich noch sagen will: Die Langeweile nimmt kein Ende. Ein kleiner Mann kann in Not sein, hat nicht einmal Brot genug, kann seine Kinderchen nicht kleiden, muß auf spitzigem Stroh schlafen, aber sein Herz ist immer heiter und leicht; auch wenn er sündig und grob ist, behält er ein leichtes Herz. Und ein großer Mann ißt und trinkt über das Maß, sitzt auf einem Haufen Gold, aber in seinem Herzen ist nichts als Trübsal. Manch einer ist aller Wissenschaften Meister – aber die Trübsal weicht nicht. Ich denke mir, je mehr der Verstand zunimmt, desto langweiliger hat es der Mensch. Und dann ist noch etwas anderes zu bedenken: Man lehrt seit Anfang der Welt, aber was hat man denn Gutes gelehrt, damit die Welt die schönste und heiterste und von jeder Freude erfüllte Wohnung wird? Und dann will ich noch sagen: Sie wissen nichts
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