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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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sich.
    »Ich hab mich also erhoben«, sprach er, beinahe stolz und freudig lächelnd, »hab Dank, meine Liebe, du hast es mich gelehrt, denn ich dachte schon, meine Beine wollen mich gar nicht mehr tragen …«
    Aber er blieb nicht lange stehen und konnte kaum zu Ende sprechen, als seine Krücke, auf die er sich mit seinem ganzen Körpergewicht stützte, plötzlich auf dem Teppich ins Rutschen kam, und da seine Beine ihn fast überhaupt »nicht mehr tragen wollten«, stürzte er der Länge nach auf den Boden. Der Anblick war fast unheimlich, ich erinnere mich noch daran. Alle schrien auf und stürzten herzu, um ihm zu helfen, aber Gott sei Dank, er hatte sich nicht verletzt: Er war nur mit vollem Gewicht, krachend, mit beiden Knien, auf den Boden geschlagen, hatte aber glücklicherweise den rechten Arm vorgestreckt und so den Sturz abgefangen. Man hob ihn auf und setzte ihn aufs Bett. Er war sehr blaß, aber nicht vor Schreck, sondern durch die Erschütterung. (Der Arzt hatte bei ihm, außer allem anderen, auch ein Herzleiden diagnostiziert.) Mama aber war außer sich vor Schreck. Und plötzlich wandte sich Makar Iwanowitsch, immer noch bleich, am ganzen Körper zitternd und offenbar noch nicht richtig zu sich gekommen, Lisa zu und sagte leise und fast zärtlich:
    »Nein, meine Liebe, die Beine machen also doch nicht mehr mit!«
    Ich kann meinen damaligen Eindruck kaum wiedergeben. Es war nämlich so, daß in den Worten des armen alten Mannes nicht die leiseste Klage oder ein Vorwurf mitschwang; im Gegenteil, es war ganz offensichtlich, daß ihm von Anfang an in Lisas Worten nicht die geringste Boshaftigkeit aufgefallen war und daß er ihren Verweis als berechtigt, als einen verdienten Tadel für sein schuldhaftes Verhalten aufgefaßt hatte. All das übte eine furchtbare Wirkung auf Lisa aus. In dem Augenblick, da er stürzte, war sie, wie wir alle, aufgesprungen, war totenblaß stehen geblieben, in der leidvollen Einsicht, die Ursache von allem zu sein, aber als sie die Worte hörte, wurde sie plötzlich, im Bruchteil einer Sekunde, vor Scham und Reue feuerrot.
    »Genug«, kommandierte plötzlich Tatjana Pawlowna. »Das kommt alles von den ewigen Unterhaltungen! Es wird Zeit für alle; was kann man Gutes erwarten, wenn der Arzt selbst dieses Geschwätz eingeführt hat!«
    »Stimmt«, räumte Alexander Semjonowitsch ein, der sich an dem Kranken zu schaffen machte. »Verzeihung, Tatjana Pawlowna, er braucht Ruhe!«
    Aber Tatjana Pawlowna hörte nicht mehr zu: Seit gut einer halben Minute hatte sie schweigend Lisa beobachtet.
    »Komm her, Lisa, gib der alten Närrin einen Kuß, nur, wenn du willst«, sagte sie unvermittelt.
    Und Tatjana Pawlowna küßte sie auch, ich weiß nicht, weswegen, aber sie hat genau das Richtige getan; es fehlte nicht viel, und ich wäre selbst Tatjana Pawlowna um den Hals gefallen und hätte sie geküßt. Statt Lisa mit einem Vorwurf in die Enge zu treiben, mußte man das neue schöne Gefühl, das zweifellos in ihr aufkeimte, mit Freude und Glückwünschen begrüßen. Aber ohne all diese Gefühle erhob ich mich plötzlich und begann mit fester Stimme, laut und deutlich:
    »Makar Iwanowitsch, Sie haben wieder das Wort ›Wohlgestalt‹ gebraucht, und ich habe mich ausgerechnet mit diesem Wort gestern und in den letzten Tagen gequält … mein ganzes Leben habe ich mich schon damit gequält, ich wußte nur nicht, was es war. Die Übereinstimmung dieser Worte halte ich für schicksalhaft und fast für ein Wunder. Dies bekenne ich in Ihrer Gegenwart …«
    Aber ich wurde sofort unterbrochen. Ich wiederhole: Ich wußte nichts von ihrem Vorsatz, Mama und Makar Iwanowitsch zu schonen, und nach den früheren Erfahrungen, die sie mit mir gemacht hatten, hielten sie mich selbstverständlich eines jeden Skandals dieser Art für fähig.
    »Bringt ihn zum Schweigen, bringt ihn zum Schweigen!« Tatjana Pawlowna war wutentbrannt. Mama erbebte. Makar Iwanowitsch erschrak angesichts der allgemeinen Aufregung.
    »Arkadij, genug!« rief Werssilow streng.
    »Ich, meine Herrschaften«, ich erhob meine Stimme, »ich empfinde Sie alle neben diesem Kind (ich zeigte auf Makar) als Ungestalt. Hier ist nur eine Heilige – Mama. Aber auch sie …«
    »Sie erschrecken ihn!« sagte der Arzt eindringlich.
    »Ich weiß, ich bin der Feind aller Welt«, stammelte ich (oder etwas Ähnliches), starrte aber, nachdem ich mich noch einmal im Kreise umgesehen hatte, Werssilow herausfordernd an.
    »Arkadij!« rief er abermals.

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