Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
unterdessen seine Erzählung von den Ereignissen dieses Vormittags begonnen.
Es ging darum, daß Tatjana Pawlowna an jenem Vormittag vor dem Friedensrichter erscheinen mußte, in einem Prozeß, den ihre Köchin angestrengt hatte. Es handelte sich um eine Bagatelle. Ich habe bereits erwähnt, daß diese bösartige Finnin gelegentlich vor Wut sogar wochenlang schwieg, ohne ihrer Herrin auch nur ein einziges Wort auf ihre Fragen zu antworten; ich habe ebenfalls erwähnt, daß Tatjana Pawlowna eine Schwäche für sie hatte, alles bereitwillig ertrug und sie um nichts auf der Welt ein für allemal vor die Tür setzen wollte. All diese psychologischen Marotten alter Jungfern und Dienstherrinnen finde ich in höchstem Maße négligeable und nicht der geringsten Aufmerksamkeit würdig, diese Geschichte halte ich jedoch immerhin für erwähnenswert, weil diese Köchin im weiteren Verlauf meiner Schilderung eine nicht unwesentliche und sogar verhängnisvolle Rolle spielen wird. Tatjana Pawlowna also hatte eines Tages schließlich die Geduld verloren, weil die sture Finnin sie bereits mehrere Tage lang keiner Antwort würdigte, und zu guter Letzt plötzlich zugeschlagen, was bis dahin noch nie vorgekommen war. Die Finnin ließ sich auch diesmal nicht zu einer Äußerung herab, vertraute sich aber noch am selben Tag einem ehemaligen Fähnrich zur See an, der an derselben Hintertreppe in irgendeinem Verschlag des unteren Stockwerks hauste, einem gewissen Ossetrow, der die verschiedensten Behördengänge übernahm, darunter auch Vertretungen vor dem Friedensrichter, und auf diese Weise seinen Kampf ums Dasein betrieb. Es endete damit, daß Tatjana Pawlowna zum Friedensrichter vorgeladen und Werssilow aus irgendeinem Grunde bei der Ermittlung als Zeuge zitiert wurde.
All dies brachte Werssilow ungewöhnlich heiter und witzig vor, so daß sogar Mama lachen mußte; er imitierte Tatjana Pawlowna, den Fähnrich zur See und die Köchin. Die Köchin hatte gleich zu Beginn dem Friedensrichter erklärt, daß sie eine Geldstrafe in bar wünsche, denn »wenn Sie die Gnädige einsperren, für wen soll ich dann kochen?« Die Fragen des Friedensrichters beantwortete Tatjana Pawlowna mit größtem Hochmut, verzichtete sogar auf jede Rechtfertigung und schloß, im Gegenteil, mit den Worten: »Ich habe sie geprügelt und werde sie auch weiterhin prügeln«, worauf sie auf der Stelle wegen Mißachtung des Friedensrichters zu drei Rubel Strafe verurteilt wurde. Der Fähnrich zur See, ein hoch aufgeschossener, dürrer junger Mann, begann ein langes Plädoyer zugunsten seiner Mandantin, verhaspelte sich schmählich und brachte den ganzen Saal zum Lachen. Die Ermittlung war bald beendet, Tatjana Pawlowna wurde verurteilt, an Marja für die erlittene Beleidigung fünfzehn Rubel zu zahlen. Tatjana Pawlowna zog, ohne zu zögern, ihr Portemonnaie und wollte schon die Summe entrichten, aber da tauchte auch der Fähnrich zur See auf und hielt die Hand auf. Worauf Tatjana Pawlowna seine Hand einfach zur Seite schlug und sich an ihre Marja wandte. »Schon gut, gnädige Frau, machen Sie sich keine Mühe! Schreiben Sie’s auf die Monatsrechnung! Und mit dem da werde ich selbst klarkommen.« – »Sieh mal an, Marja, was du dir für einen dürren Kerl ausgesucht hast!« Tatjana Pawlowna zeigte dabei auf den Fähnrich zur See, vor lauter Freude, daß Marja endlich wieder mit ihr redete. »Hoch aufgeschossen ist er, wirklich wahr, gnädige Frau«, antwortete Marja verschmitzt. »Haben heute Kotelett mit jungen Erbsen bestellt, ich hab’s nicht richtig gehört, weil ich’s eilig hatte?« – »Ach nein, lieber mit Kohl, Marja, laß bloß nichts anbrennen, wie gestern.« – »Aber heute will ich’s ganz besonders recht machen, gnädige Frau. Lassen Sie mich Ihr Händchen küssen.« Und sie küßte als Zeichen der Versöhnung die Hand ihrer Gnädigen. Kurz, der ganze Saal hatte sich vor Lachen gebogen.
»So eine ist das!« Mama schüttelte den Kopf, sehr zufrieden über den Ausgang der Geschichte und die Erzählung Andrej Petrowitschs, aber ohne Lisa beunruhigt aus den Augen zu lassen.
»Das gnädige Fräulein hatte schon von Kindesbeinen an Charakter«, lächelte Makar Iwanowitsch.
»Galle und Müßiggang«, bemerkte der Arzt.
»Bin ich nun ein Charakter, oder bin ich Galle und Müßiggang?« Plötzlich stand Tatjana Pawlowna unter uns, offensichtlich sehr zufrieden mit sich, »du, Alexander Semjonowitsch, solltest keinen Unsinn reden; du hast mich
Weitere Kostenlose Bücher