Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Grade. Werssilow und ich zum Beispiel unterhielten uns nach wie vor wie die besten Bekannten, aber nur bis zu einem bestimmten Grade: Kaum machte sich auch nur die Spur einer Expansivität bemerkbar (das kam vor), nahmen wir uns beide sofort zusammen, als genierten wir uns ein wenig. Es gibt Gelegenheiten, bei denen der Sieger nicht anders kann, als sich vor dem Besiegten zu genieren, und zwar gerade deswegen, weil er die Oberhand behalten hat. Der Sieger war offensichtlich ich; und ich war es auch, der sich genierte.
An jenem Vormittag, an dem ich das Bett nach dem Rückfall verlassen hatte, kam er zu mir, und da erfuhr ich von ihm zum ersten Mal von ihrer kürzlich getroffenen Absprache über Mama und Makar Iwanowitsch, wobei er bemerkte, daß der alte Mann sich zwar besser fühle, der Arzt jedoch keine Verantwortung für ihn übernehme. Ich gab ihm aus vollem Herzen gern das Versprechen, mich künftig rücksichtsvoller aufzuführen. Als Werssilow mich darüber in allen Einzelheiten unterrichtete, fiel mir plötzlich zum ersten Mal auf, daß auch er sich außerordentliche Sorgen um diesen alten Mann machte, das heißt, viel mehr, als ich von einem Menschen wie ihm erwartet hätte, und daß er den Alten als ein Wesen betrachtete, das ihm aus irgendeinem Grunde besonders teuer war, ihm selbst, und nicht allein Mamas wegen. Das interessierte mich sogleich, ich staunte beinahe und muß heute gestehen, daß ich ohne Werssilow sehr vieles an diesem alten Mann achtlos übersehen und unterschätzt hätte, der als eine der dauerhaftesten und originellsten Erinnerungen in meinem Herzen geblieben ist. Werssilow schienen meine Beziehungen zu Makar Iwanowitsch irgendwie unheimlich zu sein, das heißt, er traute weder meinem Verstand noch meinem Takt und wirkte daher später außerordentlich befriedigt, als er plötzlich bemerkte, daß auch ich zuweilen Verständnis für einen Menschen mit völlig anderen Begriffen und Ansichten aufbrachte, mit einem Wort, daß auch ich nötigenfalls entgegenkommend und nachgiebig sein konnte. Ich muß weiterhin zugeben (ohne mir etwas zu vergeben, glaube ich), daß ich in diesem Mann aus dem Volke etwas für mich völlig neues an Gefühlen und Ansichten entdeckt habe, etwas mir Unbekanntes, etwas wesentlich Klareres und Tröstlicheres als mein früheres eigenes Verständnis von derlei Dingen. Nichtsdestoweniger war es manchmal völlig unmöglich, nicht die Geduld zu verlieren angesichts entschiedener Vorurteile, an denen er mit geradezu empörender Ruhe und Unerschütterlichkeit festhielt. Aber das lag natürlich allein an seiner Unbildung; seine Seele hingegen war recht gut organisiert, sogar so gut, daß mir in dieser Hinsicht an einem Menschen noch nichts Besseres begegnet ist.
II
Das Anziehendste an ihm war, wie schon oben bemerkt, seine außerordentliche Offenherzigkeit und das Fehlen jeglicher Spur von Egoismus; man ahnte ein nahezu sündenfreies Herz, die »Heiterkeit« des Herzens und deshalb auch die »Wohlgestalt«. Das Wort »Heiterkeit« liebte er sehr und gebrauchte es oft. Es stimmt, daß ihn gelegentlich ein krankhafter Enthusiasmus, eine leidvolle Rührung überfiel – vermutlich lag das auch daran, daß ihn das Fieber eigentlich in der ganzen Zeit nicht verlassen hat, aber die Wohlgestalt blieb davon unberührt. Es fehlte auch nicht an Kontrasten: Eine erstaunliche Treuherzigkeit, mitunter für Ironie völlig unempfindlich (oft zu meinem Verdruß), vertrug sich in ihm mit einer gewissen feinen Schläue, vor allem bei einem polemischen Geplänkel. Er polemisierte gern, wenn auch manchmal nach eigenem Gusto. Man merkte sofort, daß er weit in Rußland herumgekommen war, viel gehört hatte, aber am meisten, ich wiederhole, schätzte er Innigkeit und deshalb auch alles, was zu ihr hinführte, daher erzählte er am liebsten ans Herz gehende Geschichten. Er erzählte überhaupt sehr gern. Ich habe von ihm auch manches über seine eigenen Pilgerwege und verschiedene Legenden aus dem Leben der ältesten heiligmäßigen Anachoreten gehört. Ich bin kein Kenner, aber ich glaube, daß er an diesen Legenden vieles umdichtete, zumal er sie vorwiegend aus mündlichen Erzählungen einfacher Leute kennengelernt hatte. Es war einfach unmöglich, manches so hinzunehmen. Aber neben augenscheinlichen Eingriffen oder schlechthin Aufschneidereien schimmerte immer ein bewundernswertes Ganzes durch, voll von elementarem Volksgefühl und stets innig … Zum Beispiel ist mir eine dieser
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