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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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bebenden und mich lockenden Lippen.
    Oh, fort mit dieser gemeinen Erinnerung! Verfluchter Traum! Ich schwöre, daß es bis zu diesem widerwärtigen Traum in meinem Kopf nicht einmal etwas diesem schmählichen Gedanken auch nur Ähnliches gegeben hat! Nicht einmal eine unwillkürliche Phantasie in dieser Richtung (wiewohl ich das »Dokument« eingenäht in einer Rocktasche bei mir trug und gelegentlich mit einem eigentümlichen Lächeln danach tastete). Woher also tauchte dies alles so komplett auf? Weil in meiner Seele eine Spinne lebt! Weil es bedeutet, daß alles schon längst gekeimt war und in meinem lasterhaften Herzen, in meinem Begehren lag, aber daß das Herz sich im Wachen noch gescheut und der Kopf sich noch nicht gestattet hatte, sich etwas auch nur Ähnliches bewußt vorzustellen. Im Schlaf aber hatte die Seele es sich vorgestellt und alles, was im Herzen lag, mit größter Genauigkeit in einem lückenlosen Tableau prophetisch ausgebreitet. Und hatte ich ihnen vielleicht dieses beweisen wollen, als ich vormittags von Makar Iwanowitsch fortgestürzt war? Aber genug jetzt: Vorläufig kein Wort mehr! Dieser Traum, den ich damals träumte, bleibt eines der merkwürdigsten Abenteuer meines Lebens.

Drittes Kapitel
    I
    Drei Tage später erhob ich mich morgens und fühlte plötzlich, als ich auf den Beinen stand, daß ich mich nicht mehr hinlegen würde. Ich empfand voll und ganz die nahende Genesung. Alle diese kleinen Details hätten vielleicht nicht einmal verdient, aufgeschrieben zu werden. Aber dann folgten einige Tage, an denen zwar nichts Besonderes geschah, die aber in meinem Gedächtnis als etwas Erfreuliches und Ruhiges geblieben sind, und so etwas ist in meiner Erinnerung eine Rarität. Auf meine geistige Verfassung möchte ich einstweilen nicht eingehen; wenn der Leser erführe, wie es darum bestellt war, würde er es bestimmt nicht glauben. Es ist besser, später alles anhand der Tatsachen zu erklären. Einstweilen sage ich nur, der Leser möge die Seele einer Spinne nicht vergessen. Die noch dazu jemand gehört, der allen und der ganzen Welt den Rücken kehren wollte, im Namen der »Wohlgestalt«! Der Durst nach Wohlgestalt war brennend, ohne Zweifel, aber auf welche Weise dieser Durst sich mit manch anderen, Gott allein weiß welchen, Dürsten vereinbaren ließ – das war für mich ein Geheimnis. Und es ist schon immer ein Geheimnis gewesen, und ich habe mich schon tausendmal über diese Fähigkeit des Menschen (und, wie mir scheint, besonders des russischen) gewundert, in seiner Seele das erhabenste Ideal in unmittelbarer Nachbarschaft zur größten Gemeinheit zu hegen, und dies in größter Aufrichtigkeit. Ob das an der besonderen seelischen Weite des russischen Menschen liegt, die ihm noch manches bescheren wird, oder einfach an seiner Gemeinheit – das ist die Frage!
    Aber lassen wir das. So oder anders, es trat eine Windstille ein. Ich hatte einfach eingesehen, daß ich um jeden Preis gesund werden mußte, und zwar möglichst bald, um möglichst bald handeln zu können, und hatte mir deshalb vorgenommen, möglichst gesund zu leben, auf den Arzt zu hören (wer auch immer er war) und alle stürmischen Absichten höchst vernünftig (Zeichen seelischer Weite) auf den Tag meines ersten Ausganges, das heißt, der Genesung, zu verschieben. Auf diese Weise ergänzten sich gegenseitig alle friedlichen Eindrücke, alle Lust an der Windstille und das qualvolle süße, Unruhe verheißende Herzklopfen im Vorgefühl der nahenden stürmischen Entscheidungen – ich weiß es nicht, aber all das führe ich wiederum auf die »Weite« zurück. Doch mit der Unruhe von unlängst war es vorbei; ich hatte alles auf einen von mir festgesetzten Zeitpunkt verschoben, nun ohne vor der Zukunft zu bangen wie noch vor kurzem, sondern wie ein Krösus, der seiner Mittel und seiner Macht sicher ist. Der Hochmut und die Herausforderung des mich erwartenden Schicksals nahmen ständig zu, was zum Teil an der inzwischen wirklichen Genesung und an den rasch wiederkehrenden Lebenskräften lag. Und an diese wenigen Tage der endgültigen, wirklichen Genesung erinnere ich mich heute mit uneingeschränktem Vergnügen.
    Oh, sie hatten mir alles verziehen, das heißt jene Ausfälligkeit – sie, dieselben Menschen, die ich ins Gesicht ungestalt genannt hatte! Das liebe ich an den Menschen, das nenne ich raison de coeur; jedenfalls empfand ich das als anziehend, sogleich, wenn auch selbstverständlich nur bis zu einem bestimmten

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