Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
bestimmt war. Aber ich konnte mich nicht soweit beherrschen, daß ich sie nicht ausgefragt hätte.)
»O ja, komisch, und wie hätte ich schallend gelacht, wenn ich … mich nicht gefürchtet hätte. Ich bin übrigens keineswegs ein Hasenfuß, das dürfen Sie nicht glauben; aber nach diesem Brief habe ich kein Auge zugetan. Er war wie mit krankem Blut geschrieben … und was bleibt nach einem solchen Brief noch übrig? Ich liebe das Leben und habe große Angst um mein Leben, darin bin ich ganz und gar kleinmütig … Ach, hören Sie«, fuhr sie plötzlich auf, »gehen Sie zu ihm! Er ist jetzt allein; er hält es dort nicht länger aus, er ist gewiß allein fortgegangen: Suchen Sie ihn schleunigst auf, unbedingt, schleunigst, laufen Sie zu ihm, zeigen Sie ihm, daß Sie ein ihn liebender Sohn sind, beweisen Sie, daß Sie ein lieber, guter Junge sind, mein Student, den ich … Gebe Gott, daß Sie glücklich werden! Ich liebe niemand, das ist auch besser; aber ich wünsche allen Glück, allen, ihm als erstem, und er soll das wissen … sogar jetzt, das täte mir sehr wohl …«
Sie erhob sich und verschwand plötzlich hinter der Portiere; auf ihrem Gesicht blinkten in diesem Augenblick Tränen (hysterische Tränen, unmittelbar nach dem Lachen). Ich blieb allein, erregt und verlegen. Ich wußte wirklich nicht, welchem Umstand eine so heftige Erregung in ihr zuzuschreiben war, wie ich sie nie auch nur vermuten konnte. Irgend etwas in meinem Herzen zog sich krampfhaft zusammen.
Ich wartete fünf Minuten, schließlich zehn. Plötzlich fiel mir die tiefe Stille auf, und ich entschloß mich, einen Blick durch den Türspalt zu werfen und zu rufen. Auf meinen Ruf erschien Marja und erklärte mir mit größter Gelassenheit, daß die gnädige Frau sich schon längst angekleidet und das Haus über die Hintertreppe verlassen habe.
Siebtes Kapitel
I
Das hatte gerade noch gefehlt. Ich schnappte meinen Pelz, warf ihn eilig um und stürzte davon mit dem Gedanken: “Sie hat gewünscht, daß ich zu ihm gehe, und wo soll ich ihn finden?”
Aber abgesehen von allem anderen, beschäftigte mich die verblüffende Frage: “Warum denkt sie, daß jetzt etwas eingetreten ist und daß er sie in Ruhe läßt? Natürlich – deshalb, weil er Mama heiraten wird, aber was ist mit ihr? Freut sie sich, daß er Mama heiratet, oder ist sie, im Gegenteil, unglücklich darüber? Und kam es deshalb zu dem hysterischen Anfall? Warum kann ich das nicht durchschauen?”
Ich führe diesen zweiten, damals nur flüchtigen Gedanken buchstäblich an, um ihn festzuhalten: Er ist sehr wichtig. Dieser Abend war schicksalsträchtig. Und da – man muß unwillkürlich an Vorbestimmung denken: Ich war noch keine hundert Schritt in Richtung von Mamas Wohnung gegangen, als ich plötzlich mit dem zusammenstieß, den ich suchte. Er packte mich bei der Schulter und hielt mich an.
»Du bist das!« rief er voll Freude und gleichsam in höchster Verwunderung. »Stell dir vor, ich war bei dir«, er überstürzte sich förmlich beim Reden, »ich habe dich gesucht, mich nach dir erkundigt – du bist jetzt der einzige im ganzen Weltall, den ich brauche! Dein Beamter hat mir Gott weiß was alles vorgeschwafelt; aber du warst nicht da, und ich bin gegangen und habe sogar vergessen, ihn zu bitten, dir auszurichten, du sollest unverzüglich zu mir kommen – und nun? Ich ging dennoch in der unerschütterlichen Zuversicht, daß das Schicksal dich unmöglich nicht zu mir schicken kann, jetzt, da du mir nötiger bist als alles, und schon läufst du mir als erster entgegen! Wir wollen zu mir gehen: Du bist noch nie bei mir gewesen.«
Mit einem Wort, wir beide hatten einander gesucht, und jedem von uns beiden war eigentlich das Gleiche geschehen. Wir gingen in größter Eile weiter.
Unterwegs ließ er nur einige kurze Sätze darüber fallen, daß er Mama mit Tatjana Pawlowna zurückgelassen habe etc. Er führte mich an der Hand. Er wohnte nicht weit entfernt, und wir waren bald dort. Ich war wirklich noch nie bei ihm gewesen. Es war eine mittelgroße Wohnung mit drei Zimmern, die er (vielmehr Tatjana Pawlowna) einzig und allein für jenen »Säugling« gemietet hatte. Die Wohnung stand auch schon früher unter der ständigen Aufsicht Tatjana Pawlownas und wurde von der Kinderfrau mit dem Kind (und jetzt auch von Nastassja Jegorowna) bewohnt. Dort befand sich auch das Zimmer von Werssilow, und zwar das erste, beim Eingang, ziemlich geräumig und ziemlich ansehnlich mit
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