Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
ist – sogar eine unnütze Frau … Aber sie ist verpflichtet, alle Vollkommenheiten zu verkörpern!«
»Wieso verpflichtet?«
»Weil die Macht, die sie besitzt, sie verpflichtet, sämtliche Vollkommenheiten zu besitzen!« rief er erbost aus.
»Das Traurigste ist doch, daß Sie sich jetzt immer noch quälen!« entfuhr es mir plötzlich unwillkürlich.
»Jetzt? Quälen?« er wiederholte meine Worte und blieb vor mir stehen, offenbar stutzig geworden. Da erleuchtete plötzlich ein stilles, langes, besinnliches Lächeln sein Gesicht, und er hob, gleichsam überlegend, den Zeigefinger an die Stirn. Darauf, bereits völlig beherrscht, nahm er einen entsiegelten Brief vom Tisch und warf ihn mir zu:
»Hier, lies! Du sollst unbedingt alles erfahren … warum nur hast du mich in diesem alten Schutt wühlen lassen … Ich habe nur mein Herz erbost und besudelt! …«
Ich finde keine Worte, um mein Staunen auszudrücken. Der Brief war von ihr an ihn, er hatte ihn heute gegen fünf Uhr nachmittags erhalten. Ich las ihn beinahe zitternd vor Aufregung. Er war nicht lang, aber so direkt und aufrichtig, daß ich beim Lesen sie vor mir zu sehen und ihre Worte zu hören wähnte. Sie gestand ihm höchst offenherzig (und deshalb beinahe rührend) ihre Angst ein und flehte ihn darauf einfach an, sie »in Ruhe zu lassen«. Am Schluß teilte sie ihm mit, daß sie nun Bjoring definitiv heiraten würde. Bis jetzt hatte sie ihm noch nie geschrieben.
Damals habe ich aus seinen Erklärungen folgendes verstanden:
Kaum hatte er vorhin diesen Brief gelesen, als er plötzlich in sich etwas völlig Überraschendes fühlte: Zum ersten Mal in diesen verhängnisvollen zwei Jahren empfand er nicht den geringsten Haß gegen sie und nicht die geringste Erschütterung ähnlich derjenigen, die ihn erst vor kurzem bei dem bloßen Gerücht über Bjoring »um den Verstand gebracht« hatte. »Im Gegenteil, ich dachte an sie mit den herzlichsten Segenswünschen«, sagte er mir mit tiefem Gefühl. Ich nahm diese Worte begeistert auf. Das bedeutete, daß alles, was in ihm Leidenschaft und Qual gewesen war, sich nun aufgelöst hatte, von selbst, wie ein Traum, wie ein zweijähriger Spuk. Er hatte es kaum glauben wollen, er war zu Mama geeilt – und dann: Er traf dort genau in der Minute ein, als sie frei geworden und als der Greis, der sie ihm gestern überantwortet hatte, verschieden war. Und die Gleichzeitigkeit beider Ereignisse war es, die seine Seele erschüttert hatte. Wenig später war er davongestürmt, um mich zu suchen – und daß er sofort an mich gedacht hatte, werde ich ihm nie vergessen.
Aber auch den Abschluß dieses Abends werde ich nie vergessen. Dieser Mann hatte sich plötzlich vollkommen verwandelt. Wir saßen bis spät in die Nacht beisammen. Welche Wirkung diese »Nachricht« auf mich getan hat, werde ich später, in einem anderen Zusammenhang, erzählen, hier nur noch einige abschließende Worte über ihn. Wenn ich jetzt überlege, verstehe ich, daß die bezauberndste Wirkung auf mich damals seine Demut ausgeübt hat, seine echte Aufrichtigkeit mir, einem solchen grünen Jungen gegenüber! »Das ist nur ein betäubender Rauch gewesen, aber auch er sei gesegnet!« hat er ausgerufen, »ohne diese Verblendung hätte ich vielleicht niemals in meinem Herzen so vollkommen und für ewig meine einzige Zarin, meine Märtyrerin gefunden – deine Mutter!« Diese begeisterten Worte, die sich ihm unaufhaltsam entrangen, führe ich im Hinblick auf das Weitere an. Damals aber gewann und besiegte er meine Seele.
Ich weiß noch, wir wurden zum Schluß schrecklich lustig. Er befahl, Champagner zu bringen, und wir tranken auf Mama und auf die »Zukunft«. Oh, er sprühte vor Leben und war willens zu leben! Aber es lag nicht am Wein, daß wir plötzlich schrecklich lustig wurden: Wir leerten jeder nur zwei Kelche. Ich weiß nicht, woran es lag, aber zum Schluß lachten wir fast unaufhörlich. Wir unterhielten uns über völlig gleichgültige Dinge; er verfiel darauf, Witze zu erzählen, ich ebenfalls. Unser Gelächter und unsere Witze waren nicht im geringsten boshaft oder spöttisch, aber wir amüsierten uns. Er wollte mich einfach nicht gehen lassen: »Bleib noch, bleib!« wiederholte er, und ich blieb. Er kam sogar mit, um mich zu begleiten; es war ein wunderbarer Abend, mit leichtem Frost.
»Sagen Sie, haben Sie ihr schon geantwortet?« fragte ich plötzlich vollkommen unwillkürlich, als ich ihm an einer Kreuzung zum letzten Mal die
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