Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Hand drückte.
»Noch nicht, nein, das ist auch ganz egal. Komm doch morgen, komm früher … Übrigens, noch etwas: Du mußt mit Lambert Schluß machen und das ›Dokument‹ zerreißen, schleunigst. Leb wohl!«
Mit diesen Worten ging er plötzlich; ich blieb zurück, stand wie angewurzelt und war so verstört, daß ich nicht wagte, ihn zurückzurufen. Das Wort »Dokument« hatte mich besonders erschüttert: Von wem hätte er davon erfahren können und dazu so präzise, wenn nicht von Lambert? Als ich nach Hause kam, war ich immer noch richtig verstört. Und wie sollte es auch zugehen, fuhr es mir plötzlich durch den Kopf, daß ein solcher »zweijähriger Spuk« sich auflöste wie ein Traum, wie ein Rauch, wie ein Geist?
Neuntes Kapitel
I
Aber als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich frischer und besser gelaunt. Unwillkürlich und von ganzem Herzen machte ich mir sogar Vorwürfe, am Vorabend einige Stellen seiner »Beichte« meiner Erinnerung nach gewissermaßen leichtfertig und hochmütig aufgenommen zu haben. Auch wenn sie eine Folgerichtigkeit teilweise vermissen ließ, auch wenn einige Geständnisse nebulös und sogar wirr waren, so läßt sich dem entgegenhalten, daß er sich mitnichten auf eine rhetorische Leistung vorbereitet hatte, als er mich gestern zu sich bat. Er hat mir nichts anderes als eine hohe Ehre erwiesen, indem er sich in einem solchen Augenblick an mich als den einzigen Freund wandte, und das sollte ich ihm nie vergessen. Im Gegenteil, seine Beichte war »anrührend«, mag man mich wegen dieses Ausdrucks auch nach Herzenslust auslachen, und wenn hin und wieder etwas Zynisches oder gar Lächerliches hindurchschimmerte, so war ich doch weitherzig genug, um einen gewissen Realismus nicht gelten zu lassen oder gar abzulehnen – übrigens, ohne meinem Ideal untreu zu werden. Die Hauptsache war, daß ich endlich diesen Menschen durchschaute, und ich bedauerte es teilweise sogar und war leicht verärgert, daß dies alles sich als so einfach erwiesen hatte: Diesen Menschen hatte ich stets in die höchste Höhe über den Wolken erhoben und sein Schicksal in etwas unbedingt Geheimnisvolles gehüllt, so daß ich natürlich bis jetzt gewünscht hatte, das Kästchen möge sich möglichst kompliziert öffnen . Übrigens waren seine Begegnung mit ihr und die zwei Jahre voller Leiden kompliziert genug gewesen: “Er hatte das Fatum in seinem Leben geduldet; er wünschte Freiheit und nicht Versklavung durch das Fatum; die Versklavung durch das Fatum hatte ihn genötigt, Mama zu kränken, die vergeblich in Königsberg auf ihn wartete …”. Überdies hielt ich diesen Menschen auf jeden Fall für einen Verkünder: Er trug im Herzen das goldene Zeitalter und kannte die Zukunft des Atheismus; und da hatte die Begegnung mit ihr alles zerbrochen und alles verdorben! Oh, ich habe ihr nicht die Treue gebrochen, aber dennoch seine Partei ergriffen. Mama zum Beispiel, sinnierte ich, hätte auf keine Weise sein Schicksal störend beeinflußt, nicht einmal, wenn er sie geheiratet hätte. Dies verstand ich, dies war etwas ganz anderes als die Begegnung mit jener. Natürlich, auch bei Mama hätte er seine Ruhe nicht gefunden, aber das wäre sogar günstiger gewesen. Solche Menschen müssen anders beurteilt werden, und ihr Leben soll immer so sein; und das wäre keineswegs Ungestaltheit; im Gegenteil, Ungestaltheit wäre es, wenn sie sich zur Ruhe setzen oder überhaupt allen durchschnittlichen Menschen ähnlich würden. Seine Hymne auf den Adel und seine Worte: »Je mourrai gentilhomme« bereiteten mir kein Kopfzerbrechen: Ich begriff, wie ein »gentilhomme« zu sein hätte; ein Typus, der alles hingibt und zum Vorverkünder des Weltbürgertums und des russischen Hauptgedankens der »All-Einigung der Ideen« wird. Und sogar wenn all das eine Spinnerei wäre, das heißt, die »All-Einigung der Ideen« (natürlich ein Ding der Unmöglichkeit), so ist schon eines gut, nämlich daß er sein Leben lang die Idee und nicht das blöde Goldene Kalb anbetet. Mein Gott! Als ich damals auf meine »Idee« kam, habe ich, ich selbst, etwa das Goldene Kalb angebetet, ging es mir damals etwa ums Geld? Ich schwöre, ich würde nicht einen Stuhl, nicht einen Diwan mit Samt polstern lassen und mich im Besitz von Millionen mit dem gleichen Teller Rindfleischbrühe begnügen wie heute!
Ich kleidete mich an und eilte zu ihm, unaufhaltsam. Es sei hinzugefügt: Auch sein Ausfall wegen des »Dokuments« regte mich fünfmal
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