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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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er vielleicht ganze zwei Jahre für seine Idee (die ich seelenruhig a priori angenommen hätte) geopfert hat, in Anbetracht dessen, das heißt in Anbetracht von Krafts Bemühungen und seiner Zuverlässigkeit, stellt sich uns diese ganze Sache als ein Phänomen dar. Aus all dem ergibt sich eine Frage, die sich dem Verständnis von Kraft entzieht, und das ist es eben, womit man sich beschäftigen muß, das heißt, mit Krafts mangelndem Verständnis, weil es sich um ein Phänomen handelt. Es muß entschieden werden, ob dieses Phänomen zu den klinischen gehört, als ein einmaliger Fall, oder zu Eigenschaften, die sich ganz normal auch in anderen Fällen wiederholen; das dürfte schon im Hinblick auf die allgemeine Sache von Bedeutung sein. Das mit Rußland nehme ich Kraft sofort ab und möchte sogar hinzufügen, daß ich mich eigentlich darüber freue; und wenn diese Idee von allen übernommen würde, dann würde man freie Hand bekommen und manchen von dem Vorurteil des Patriotismus befreien …«
    »Mir geht es überhaupt nicht um Patriotismus«, sagte Kraft, sich sichtlich überwindend. Alle diese Debatten waren ihm unangenehm, glaube ich.
    »Patriotismus oder nicht, das kann man beiseite lassen«, ließ Wassin vernehmen, der bis dahin nachdrücklich geschwiegen hatte.
    »Aber warum, bitte sehr? Warum sollte Krafts Folgerung das Streben nach der allgemeinen Sache verhindern?« schrie der Lehrer (er schrie als einziger, alle anderen sprachen leise). »Mag Rußland zur Zweitrangigkeit verurteilt sein; aber man kann sich ja nicht nur für Rußland einsetzen. Und außerdem, wie sollte Kraft ein Patriot sein, wenn er schon aufgehört hat, an Rußland zu glauben?«
    »Und noch dazu ein Deutscher ist!« meldete sich wieder die Stimme.
    »Ich bin Russe«, sagte Kraft.
    »Diese Frage steht keineswegs in direktem Zusammenhang mit dem Problem«, bemerkte Dergatschow, gegen den Zwischenrufer gewandt.
    »Verlassen Sie die Enge Ihrer Idee!« Tichomirow ließ sich durch nichts beirren. »Wenn Rußland nur Material für edlere Volksstämme sein soll, warum sollte es nicht als Material nützlich sein? Diese Rolle ist immer noch nicht unansehnlich. Warum sollte man sich mit dieser Rolle angesichts einer Erweiterung der Aufgabe nicht zufriedengeben? Die Menschheit steht am Vorabend ihrer totalen Wiedergeburt, die schon begonnen hat. Die bevorstehende Aufgabe wird nur von Blinden in Frage gestellt. Laßt Rußland Rußland sein, wenn ihr den Glauben an Rußland verloren habt, und arbeitet für die Zukunft, für ein künftiges, noch unbekanntes Volk, das aber aus der ganzen Menschheit hervorgeht, ohne nationale Unterschiede. Ohnedies würde Rußland irgendwann einmal sterben; Völker, selbst die allerbegabtesten, leben nur anderthalb, höchstens zweitausend Jahre; ist denn das nicht egal: Zwei Jahrtausende oder zwei Jahrhunderte? Die Römer haben keine anderthalb Jahrtausende als ein lebendiges Volk gelebt und sich dann ebenfalls in Material verwandelt. Es gibt sie schon längst nicht mehr, aber sie haben eine Idee hinterlassen, und diese ist als ein Element in die Geschicke der Menschheit eingegangen. Kann man denn einem Menschen sagen, daß es nichts mehr zu tun gibt? Ich kann mir eine Situation einfach nicht vorstellen, in der es irgendwann nichts zu tun gäbe! Setzen Sie sich für die Menschheit ein, und lassen Sie alles andere auf sich beruhen. Es gibt so viel zu tun, wenn man sich aufmerksam umsieht, daß ein Leben dafür nicht ausreicht.«
    »Man muß nach dem Gesetz der Natur und der Wahrheit leben«, sagte Frau Dergatschowa hinter der Tür. Die Tür war nur einen Spalt angelehnt, und man sah durch den Spalt, daß sie mit dem Kind an der Brust, die sie verhüllt hatte, stehengeblieben war und mit glühendem Interesse zuhörte.
    Kraft hatte mit einem leichten Lächeln zugehört und sagte schließlich, mit ziemlich gequälter Miene, indes mit großer Aufrichtigkeit:
    »Ich verstehe nicht, wie es möglich ist, unter dem Einfluß eines beherrschenden Gedankens, dem sich Verstand und Herz vollkommen unterwerfen, noch für etwas anderes zu leben, das außerhalb dieses Gedankens liegt?«
    »Aber wenn logisch, mathematisch bewiesen wird, daß Ihre Folgerung falsch, daß der ganze Gedanke falsch ist, daß Ihnen nicht das geringste Recht zusteht, von der nutzbringenden Tätigkeit der Allgemeinheit sich nur deshalb auszuschließen, weil Rußland zu einer Zweitrangigkeit verurteilt ist, wenn man Sie darauf hinweist, daß statt des

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