Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
werde einmal den Wunsch haben, der Menschheit zu dienen, und werde es vielleicht auch tun und werde es vielleicht zehnmal mehr tun als alle Prediger; ich bin nur dagegen, daß jemand sich das Recht herausnimmt, es von mir zu verlangen, und mich wie Herrn Kraft dazu zwingt; es steht in meinem freien Ermessen, ob ich etwas tun will oder nicht. Aber herumlaufen und sich jedem an den Hals werfen, vor lauter Liebe zur Menschheit, vor Rührseligkeit glühen und Tränen vergießen – das ist nur eine Mode. Wozu eigentlich soll ich unbedingt meinen Nächsten oder Ihre künftige Menschheit lieben, die ich niemals zu Gesicht bekommen werde, die von mir nichts wissen und die ihrerseits spurlos verschwinden wird, ohne ein Zeichen zu hinterlassen (Zeit spielt dabei keine Rolle), während die Erde ihrerseits sich in Eisbrocken verwandelt und unter der unendlichen Menge ebensolcher Eisbrocken durch den luftleeren Raum fliegen wird, also, etwas Sinnloseres kann man sich nicht einmal vorstellen! So, das ist Ihre Lehre! Sagen Sie, wozu eigentlich soll ich unbedingt ein edler Mensch sein, zumal das alles höchstens eine Minute währt?«
»Oho!« rief die Stimme.
Ich hatte das alles nervös und erbost hervorgestoßen und alle Trosse gekappt. Ich wußte, daß ich in eine Grube stürzen würde, aber ich beeilte mich aus Furcht vor den Einwänden. Ich spürte allzu deutlich, daß ich sie mit meinen Argumenten wie unter einem Schüttelrost zudeckte, zusammenhanglos und vom Hundertsten ins Tausendste kommend, aber ich hatte es eilig, sie zu überzeugen und zu überwältigen. Das war für mich überaus wichtig! Ich hatte mich drei Jahre lang darauf vorbereitet. Es war erstaunlich, daß sie plötzlich verstummten, völlig wortlos dasaßen und alle zuhörten. Ich wandte mich immer noch an den Lehrer:
»So ist es. Ein außerordentlich kluger Mensch hat unter anderem gesagt, daß es nichts Schwierigeres gebe, als eine Antwort auf die Frage zu finden: ›Wozu soll man unbedingt ein edler Mensch sein?‹ Sehen Sie, es gibt auf unserer Welt drei Sorten von Schurken: naive Schurken, das heißt solche, die davon überzeugt sind, daß ihre Niedertracht den höchsten Edelmut darstelle, verschämte Schurken, das heißt, solche, die sich ihrer eigenen Niedertracht schämen, trotz des unabänderlichen Vorsatzes weiterzumachen, und endlich: einfache Schurken, Schurken reinsten Wassers. Erlauben Sie. Ich hatte einen Schulkameraden, Lambert, der schon als Sechzehnjähriger mir vorschwärmte, wie er später, wenn er einmal reich wäre, sein größtes Vergnügen darin finden würde, Hunde mit Brot und Fleisch zu füttern, während die Kinder der Armen verhungern; und wenn sie nichts zu heizen hätten, würde er eine ganze Holzhandlung kaufen, auf einem Feld das Brennholz aufschichten und das Feld heizen, den Armen aber nicht ein einziges Scheit geben. Das waren eben seine Gefühle! Sagen Sie mir doch, was kann ich diesem reinrassigen Schurken auf die Frage antworten: ›Wozu eigentlich sollte er unbedingt ein edler Mensch sein?‹ Besonders jetzt, in unserer Zeit, die Sie so umgekrempelt haben? Denn schlimmer als jetzt war es noch nie. Unsere Gesellschaft tappt völlig im dunkeln, meine Herren. Sie leugnen doch Gott, sie leugnen die religiöse Tat, welche Stupidität, blind und taub und stumpfsinnig, könnte mich nun dazu bewegen, gegen meine Vorteile zu handeln? Sie sagen: ›Eine vernünftige Beziehung zur Menschheit bringt auch mir Vorteile‹; aber wie, wenn ich soviel Vernunft für unvernünftig halte, alle diese Kasernen und Phalangen? Aber was zum Teufel gehen sie mich an, und auch die Zukunft; wenn ich nur ein einziges Mal auf der Welt bin! Gestatten Sie mir doch, selbst meinen Vorteil zu kennen: Das ist doch viel lustiger. Was schert mich die Frage, wie es in tausend Jahren um diese Ihre Menschheit stehen wird, wenn ich dafür nach Ihrem Codex weder Liebe noch ein künftiges Leben, noch Anerkennung für meine Taten zu erwarten habe? O nein, wenn es so steht, will ich auf die rücksichtsloseste Weise nur für mich selbst leben, und alle anderen mögen zur Hölle fahren!«
»Ein exzellenter Wunsch!«
»Übrigens bin ich immer bereit mitzumachen.«
»Noch besser!« (Immer dieselbe Stimme.)
Alle anderen bewahrten Schweigen, alle sahen mich an und musterten mich; aber nach und nach erhob sich in den verschiedensten Ecken des Zimmers ein Kichern, erst verstohlen, dann aber kicherten mir alle direkt ins Gesicht. Wassin und Kraft waren die einzigen,
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