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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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beschränkten Horizonts sich die Unendlichkeit öffnet, daß statt der engen Idee des Patriotismus …«
    »Ach was«, winkte Kraft still ab. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es mit Patriotismus nichts zu tun hat.«
    »Hier liegt augenscheinlich ein Mißverständnis vor«, mischte sich plötzlich Wassin ein. »Der Irrtum besteht darin, daß es sich für Kraft nicht allein um eine logische Folgerung handelt, sondern um eine Folgerung, die sich in ein Gefühl verwandelt hat. Nicht alle menschlichen Naturen sind von gleicher Art; bei vielen verwandelt sich die logische Folgerung in ein übermächtiges Gefühl, das sich eine ganze Existenz unterwirft und nur sehr schwer verändert oder überwunden werden kann. Um einen solchen Menschen zu heilen, müßte gerade dieses Gefühl verändert werden, indem man ein anderes, ebenso übermächtiges, an seine Stelle setzt. Das ist die einzige Möglichkeit. Es ist immer sehr schwierig, sehr oft unmöglich.«
    »Irrtum!« schrie der Kontrahent. »Die logische Folgerung zersetzt schon an und für sich sämtliche Vorurteile. Eine vernünftige Überzeugung bringt ebenfalls ein Gefühl hervor. Der Gedanke entsprießt dem Gefühl und erzeugt seinerseits, sobald er sich im Menschen festsetzt, ein neues!«
    »Die Menschen sind sehr verschieden: Die einen ändern leicht ihre Gefühle, die anderen nur sehr schwer«, entgegnete Wassin, als wünschte er, die Diskussion nicht länger fortzusetzen; ich aber war von seiner Idee begeistert.
    »Es ist ganz genau so, wie Sie sagen!« wandte ich mich plötzlich an ihn, das Eis war gebrochen, und ich begann plötzlich zu reden. »Das ist es ja eben, daß man ein Gefühl durch ein anderes ersetzen muß, um es gleichsam auszutauschen … In Moskau, vor vier Jahren, hat ein General … Sehen Sie, meine Herren, ich war mit ihm nicht bekannt, aber … Vielleicht war er jemand, der an und für sich betrachtet keine Achtung verdiente … Abgesehen davon, daß auch das Faktum an sich nicht realistisch erscheint, aber … Allerdings verlor er, sehen Sie, ein Kind, das heißt, in Wirklichkeit zwei kleine Mädchen, eine nach der anderen. Sie bekamen Scharlach … Und nun … Er war plötzlich so niedergeschlagen, daß er nur noch trauerte; er trauerte so sehr, daß man den Anblick nicht ertragen konnte, und es endete damit, daß er starb, fast ein halbes Jahr später. Daß er daran starb, ist doch ein Faktum! Wodurch hätte man ihn zum Leben wiedererwecken können? Antwort: Durch ein gleich starkes Gefühl! Man hätte ihm zuliebe diese beiden kleinen Mädchen aus dem Grab holen und ihm zurückgeben müssen – das wäre das Richtige gewesen, das heißt, etwas Ähnliches. Er ist schließlich gestorben. Natürlich wäre es möglich gewesen, ihm wundervolle Schlußfolgerungen anzubieten: Alles Leben sei vergänglich, alle Menschen seien sterblich, ihm anhand eines Kalenders eine Statistik aufzustellen über die Kindersterblichkeit nach Scharlach … Er hatte inzwischen seinen Abschied genommen …«
    Ich hielt inne, völlig außer Atem, und sah mich wiederholt im Kreise um.
    »Das ist doch etwas ganz anderes«, sagte jemand.
    »Das von Ihnen angeführte Beispiel ist zwar anders als der besprochene Fall, ihm aber trotzdem ähnlich und anschaulich«, sagte Wassin, sich mir zuwendend.
    IV
    Hier muß ich gestehen, weshalb Wassins Argument mit dem »Idee-Gefühl« mich so begeistert hat, aber zugleich muß ich auch eine höllische Schmach gestehen. Ja, ich fürchtete mich vor dem Besuch bei Dergatschow, wenn auch nicht aus dem Grunde, den Jefim annahm. Ich fürchtete mich, weil ich schon in Moskau vor ihnen Angst gehabt hatte. Ich wußte, daß sie (das heißt, ob sie oder andere von dieser Sorte – das ist egal) Dialektiker seien und wohlmöglich »meine Idee« zerschlagen könnten. Ich war felsenfest davon überzeugt, daß ich ihnen meine Idee nicht verraten und nicht preisgeben würde; aber sie (das heißt wiederum, sie oder jemand von ihrer Sorte) könnten mir irgend etwas sagen, worauf ich »meine Idee« fallenlassen würde, auch wenn ich sie mit keiner Silbe erwähnt hätte. »Meine Idee« schloß Fragen ein, die ich noch nicht gelöst hatte, aber ich wünschte nicht, daß jemand über ihre Lösung rätselte außer mir selbst. In den letzten zwei Jahren hatte ich sogar keine Bücher mehr gelesen, aus Angst, auf eine Stelle zu stoßen, die für die »Idee« ungünstig wäre und mich vielleicht erschüttern könnte. Und plötzlich löste Wassin das

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