Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Problem mit einem Schlag und beruhigte mich im höchsten Sinn. In der Tat, was hatte ich eigentlich gefürchtet, und was könnten sie mir antun, mit was für einer Dialektik auch immer? Vielleicht war ich dort der einzige, der verstanden hatte, was Wassin mit »Idee-Gefühl« meinte. Es genügt nicht, eine schöne Idee zu widerlegen, sie muß durch ein gleichmächtiges Schönes ersetzt werden; sonst werde ich, der ich mich um nichts auf der Welt von meinem Gefühl trennen möchte, in meinem Herzen die Widerlegung widerlegen, und sei es gewaltsam, mögen sie reden, was immer sie wollen. Und was könnten sie mir als Ersatz anbieten? Und deshalb hätte ich mutiger sein sollen, ich war verpflichtet, tapferer zu sein. In meiner Begeisterung über Wassin fühlte ich Scham um mich selbst – einen unwürdigen Milchbart!
Aber das war noch nicht genug der Schmach. Es war nicht das miese Bedürfnis, mit meiner Intelligenz zu prahlen, die mich bewogen hatte, das Eis zu brechen und draufloszureden, sondern ebenso der Wunsch, mich ihnen »an den Hals zu werfen«. Diesen Wunsch, mich jemand an den Hals zu werfen, damit ich als guter Mensch anerkannt, umarmt werde und ähnliches (mit einem Wort: eine Sauerei), diesen Wunsch halte ich für die abscheulichste unter allen meinen schmählichen Eigenschaften und vermute, ihn schon sehr lange in mir zu hegen, genau seit dem Winkel, in den ich mich so lange freiwillig verbannt hatte, was ich allerdings nicht bereue. Ich wußte, daß ich unter Menschen düsterer zu scheinen hätte. Nach jedem solch schmachvollen Vorfall tröstete ich mich einzig damit, daß »meine Idee« trotz allem insgeheim in mir weiterlebte und daß ich sie nicht an die anderen verraten hatte. Mit stockendem Herzen malte ich mir manchmal aus, daß mir plötzlich, wenn ich irgend jemand in meine Idee einweihen würde, nichts mehr übrigbleiben und daß ich dann wie alle anderen sein und möglicherweise der Idee abschwören würde; deshalb hütete und bewahrte ich sie und zitterte vor jeder Möglichkeit, sie auszuplaudern. Und nun, bei Dergatschow, hatte ich fast schon bei der ersten Konfrontation nicht durchgehalten: Ich habe natürlich nichts ausgeplaudert, aber unmäßig geschwatzt; eine Schande. Eine schlimme Erinnerung! Nein, ich kann unmöglich unter Menschen leben; das weiß ich schon heute; und ich sage es für vierzig Jahre im voraus. Meine Idee ist der Winkel.
V
Kaum hatte mir Wassin zugestimmt, fühlte ich plötzlich den unwiderstehlichen Drang zu reden.
»Meiner Meinung nach hat jeder Mensch ein Recht auf seine Gefühle … Nach seiner Überzeugung … Wobei niemand sie ihm vorwerfen darf«, wandte ich mich an Wassin. Auch wenn ich ziemlich kühn anfing, kam es mir doch so vor, als wäre es nicht ich, sondern eine fremde Zunge, die sich in meinem Mund bewegte.
»Ist – denn – das – mög – lich?« fiel sofort der ironische Singsang derselben Stimme ein, die Dergatschow mehrmals unterbrochen und Kraft zugerufen hatte, er sei ein Deutscher.
Da ich sie für eine Nullität hielt, wandte ich mich an den Lehrer, als hätte er es mir zugerufen.
»Nach meiner Überzeugung darf ich kein Urteil über einen anderen fällen.« Ich zitterte und wußte schon, daß es mit mir durchgehen würde.
»Warum denn so diskret?« erhob sich abermals die Stimme der Nullität.
»Jeder hat seine eigene Idee.« Ich sah unverwandt den Lehrer an, obwohl er weiterschwieg und mich lächelnd beobachtete.
»Und Sie?« rief die Nullität.
»Das ist eine lange Geschichte … Zum Teil besteht meine Idee gerade darin, daß ich in Ruhe gelassen werden möchte. Solange ich zwei Rubel in der Tasche habe, möchte ich allein leben und von niemand abhängen (beruhigen Sie sich, die Einwände sind mir bekannt) und gar nichts tun – nicht einmal etwas für jene künftige große Menschheit, für die zu arbeiten Herr Kraft aufgefordert wurde. Die persönliche Freiheit, das heißt meine ureigenste, sie steht für mich an erster Stelle, und alles weitere geht mich nichts an.«
Das Fatale war, daß ich zornig wurde.
»Das heißt, Sie verkünden die Ruhe einer satten Kuh?«
»Meinetwegen. Eine Kuh kann niemand beleidigen. Ich bin keinem gegenüber verpflichtet. Ich entrichte der Gesellschaft meinen Obolus in Form von Steuern, dafür, daß man bei mir nicht einbricht, mich nicht überfällt und mich nicht umbringt, und darüber hinaus darf niemand etwas von mir verlangen. Vielleicht habe ich persönlich auch noch andere Ideen und
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