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Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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Schutzmann berichtete inzwischen von dem Handgemenge und erzählte von einem Oberst …
    »Familienname?« schrie mir jemand zu.
    »Dolgorukij«, brüllte ich zurück.
    »Fürst Dolgorukij?«
    Gänzlich außer mir antwortete ich mit einem ziemlich gemeinen Schimpfwort, und darauf … darauf, ich erinnere mich dunkel, wurde ich in ein finsteres Kämmerchen geschleppt, »zur Ausnüchterung«. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Die ganze Öffentlichkeit hat erst unlängst in den Zeitungen die Beschwerde eines Herrn gelesen, der eine ganze Nacht im Arrest verbracht hat, gefesselt, ebenfalls in der Ausnüchterungszelle, aber jener hatte sich, wie erinnerlich, nicht einmal etwas zuschulden kommen lassen. Ich ließ mich auf eine Pritsche fallen, die ich mit zwei in todesähnlichem Schlaf liegenden Männern teilen mußte. Ich hatte Kopfschmerzen, mein Herz hämmerte, und in meinen Schläfen hämmerte es auch. Ich muß bewußtlos geworden sein und habe, glaube ich, phantasiert. Ich weiß nur, daß ich mitten in der Nacht aufwachte und daß ich auf der Pritsche saß. Mit einem Schlag erinnerte ich mich an alles und sah alles klar vor mir, stützte die Ellbogen auf die Knie, legte den Kopf in die Hände und versank in tiefes Nachdenken.
    Oh, ich möchte nicht meine Gefühle beschreiben und habe auch nicht die Zeit dazu, aber ich erlaube mir eine Bemerkung. Vielleicht habe ich nie friedvollere Augenblicke in meiner Seele erlebt als in jenen Minuten des Nachdenkens mitten in tiefster Nacht, auf einer Pritsche, im Arrest. Das mag den Leser befremdlich anmuten, als eine gewisse literarische Prahlerei, Effekthascherei – indes verlief alles so, wie ich sage. Es war eine von jenen Minuten, wie sie möglicherweise jedem, aber höchstens nur einmal im Leben, widerfahren. In einer solchen Minute fällt man die Entscheidung über das eigene Schicksal, bestimmt seine Anschauungen und sagt sich einmal für immer: »Hier ist die Wahrheit, und hier ist der Weg, um sie zu erreichen.« Ja, jene Augenblicke waren das Licht meiner Seele. Gekränkt durch den hochmütigen Bjoring und mit der Aussicht, morgen von einer gewissen Dame der großen Welt abermals gekränkt zu werden, unerschütterlich sicher, mich an beiden rächen zu können, entschied ich, mich nicht zu rächen. Ich entschied mich trotz aller Versuchung, das Dokument nicht ans Licht zu bringen und es nicht aller Welt bekanntzumachen (wie es mir bereits durch den Kopf gegangen war); ich wiederholte mir im stillen, schon morgen würde ich diesen Brief vor sie hinlegen und, wenn es sein müßte, statt Dankbarkeit sogar ihr spöttisches Lächeln ertragen, kein einziges Wort erwidern und sie für immer verlassen … Übrigens, genug der Worte. Alles, was mich morgen hier erwartete, die Vorführung vor die Obrigkeit und die sich daraus ergebenden Folgen – all das kümmerte mich nicht. Innig schlug ich ein Kreuz, streckte mich auf der Pritsche aus und sank in den sorglosen Schlaf eines Kindes.
    Ich wachte spät auf, es tagte schon. Ich war bereits allein im Raum. Ich setzte mich und wartete schweigend, lange, gewiß eine Stunde; vermutlich war es bereits gegen neun, als ich plötzlich geholt wurde. Ich könnte auf nähere Details eingehen, aber es lohnt sich nicht, all das ist jetzt Nebensache; mir aber geht es nur darum, die Hauptsache zu Ende zu führen. Ich möchte nur noch erwähnen, daß man mich zu meinem größten Erstaunen unerwartet höflich behandelte: Ich wurde irgend etwas gefragt, ich habe irgend etwas geantwortet, und dann gestattete man mir, sofort zu gehen. Ich ging wortlos hinaus und konnte in ihren Blicken mit Befriedigung sogar etwas wie Bewunderung für einen Menschen lesen, der es sogar in einer solchen Lage fertiggebracht hatte, nichts von seiner Würde zu verlieren. Wäre mir dies nicht aufgefallen, hätte ich es nicht notiert. Tatjana Pawlowna erwartete mich am Ausgang. Ich möchte in ein paar Worten erklären, warum ich damals so glimpflich davongekommen bin.
    Frühmorgens, vielleicht schon um acht, kam Tatjana Pawlowna in meine Wohnung geflogen, immer noch in der Hoffnung, den Fürsten dort vorzufinden, und erfuhr plötzlich von all den gestrigen Katastrophen, besonders aber davon, daß ich verhaftet worden wäre. Schnurstracks eilte sie zu Katerina Nikolajewna (die schon gestern, nach ihrer Rückkehr aus dem Theater, ihren Vater wiedersah, den man zu ihr gebracht hatte), weckte sie, versetzte sie in Schrecken und verlangte, daß ich unverzüglich

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