Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Rubel wird mir sehr lange reichen.’ An dem Samstag jedoch gelang es mir nicht zu fliehen; ich mußte bis zum nächsten Tag, dem Sonntag, warten, und am Sonntag, welch glücklicher Zufall, fuhren Touchard und seine Gattin irgendwohin; in dem ganzen Haus blieben nur ich und Agafja zurück. Ich erwartete in furchtbarer Beklemmung die Nacht, ich weiß noch, ich saß in unserem Saal, vor dem Fenster, sah hinaus auf die staubige Straße mit den kleinen Holzhäusern und den wenigen Fußgängern. Touchard wohnte abgelegen, am Rande der Stadt, und von den Fenstern aus sah man einen Schlagbaum: Vielleicht schon der richtige? ging es mir durch den Kopf. Die Sonne ging so rot unter, der Himmel war so kalt, ein scharfer Wind, genauso wie heute, wirbelte den Sand auf. Endlich wurde es ganz dunkel; ich kniete mich vor der Ikone hin, wollte beten, aber nur ganz, ganz schnell, ich hatte es eilig; ich packte das Bündelchen und stieg auf Zehenspitzen unsere knarrende Treppe hinunter, in furchtbarer Angst, daß Agafja mich in der Küche hören könnte. Der Schlüssel steckte in der Tür, ich öffnete und plötzlich – die dunkle, dunkle Nacht gähnte schwarz vor mir, eine unendliche, gefahrenträchtige Ungewißheit, und der Wind riß mir die Mütze vom Kopf. Ich trat schon hinaus; auf der anderen Seite des Gehwegs dröhnte das heisere, trunkene Brüllen eines fluchenden Fußgängers; ich blieb einen Augenblick stehen, schaute hinaus und drehte mich still um, stieg still die Treppe hinauf, kleidete mich still aus, versorgte das Bündelchen und warf mich aufs Bett, vergrub das Gesicht im Kissen, ohne Tränen, ohne Gedanken – und da, von dieser Minute an, begann ich zu denken, Andrej Petrowitsch! Von dieser Minute an, da mir bewußt wurde, daß ich nicht nur ein Lakai, sondern darüber hinaus ein Feigling war, begann meine wirkliche, regelrechte Entwicklung!«
»Und eben in dieser Minute habe ich dich durchschaut, für immer!« Tatjana Pawlowna sprang plötzlich von ihrem Platz auf, und zwar so unerwartet, daß ich darauf überhaupt nicht gefaßt war, »und du bist es immer noch, nicht genug, daß du damals ein Lakai warst, du bist immer noch ein Lakai und hast eine Lakaienseele! Andrej Petrowitsch hätte dich ruhig zu einem Schuster in die Lehre schicken sollen! Und hätte dir damit sogar eine Wohltat erwiesen, hätte aus dir einen Handwerker gemacht! Kein Mensch hätte von ihm mehr erwartet oder verlangt! Dein Vater, Makar Iwanytsch, hatte ihn nicht nur gebeten, sondern hat fast von ihm verlangt, daß er euch, seine Kinder, in einem niedrigen Stand lasse. Nein, du würdigst es nicht, daß er dich bis zur Universität brachte und daß du durch ihn die Rechte erhalten hast . Die Schuljungen hätten ihn geneckt, also mußte er der Menschheit Rache schwören … Ein Lump bist du!«
Ich gestehe, daß ich von diesem Ausfall tief getroffen war. Ich erhob mich und stand eine Weile da, ohne zu wissen, was ich sagen sollte.
»In der Tat, Tatjana Pawlowna sagt mir etwas Neues«, wandte ich mich schließlich fest an Werssilow, »ich bin in der Tat so sehr Lakai, daß ich mich keineswegs nur damit begnüge, daß Werssilow mich nicht zum Schuster in die Lehre gesteckt hat; sogar die ›Rechte‹ versöhnen mich nicht. Ich verlangte vielmehr den ganzen Werssilow, den Vater wollte ich … Das habe ich verlangt – bin ich dann kein Lakai? Mama, es liegt mir schon acht Jahre lang auf der Seele, wie Sie einmal allein zu Touchard kamen, um mich zu besuchen, und wie ich Sie damals empfing. Aber jetzt haben wir keine Zeit, Tatjana Pawlowna wird mich nicht erzählen lassen. Bis morgen, Mama. Vielleicht werden wir uns noch einmal wiedersehen, Tatjana Pawlowna! Und wenn ich, um noch einmal darauf zurückzukommen, so sehr Lakai wäre, daß ich mir nicht einmal den Gedanken gestatte, daß man als Verheirateter noch eine Frau heiraten könnte? Aber das ist doch in Ems um ein Haar Andrej Petrowitsch passiert! Mama, wenn Sie eines Tages wünschten, nicht länger bei einem Mann zu bleiben, der anderntags eine andere zu heiraten beabsichtigt, dann erinnern Sie sich daran, daß Sie einen Sohn haben, der Ihnen gelobt, auf ewig ein ehrerbietiger Sohn zu sein, erinnern Sie sich daran, und kommen Sie mit mir, aber nur unter einer Bedingung: ›Entweder er oder ich‹ – wünschen Sie das? Ich bitte nicht auf der Stelle um eine Antwort. Ich weiß doch, daß man auf solche Fragen unmöglich auf der Stelle antworten kann …«
Aber ich konnte nicht zu Ende
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