Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
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Ihn amüsierte sichtlich mein vor Staunen offener Mund. Niemals hatte ich bis jetzt auch nur eine Silbe von einem Säugling gehört. Ausgerechnet in diesem Augenblick wurde plötzlich die Tür bei den Nachbarinnen zugeschlagen. Jemand war in ihr Zimmer gestürzt.
»Werssilow wohnt im Semjonowskij Polk, in der Moschajskaja Straße, im Haus der Litwinowa, Nummer siebzehn, ich war selbst im Adreßbüro!« rief laut eine erregte Frauenstimme; jedes Wort war bei uns zu hören. Stjebelkow zog die Brauen hoch und hob einen Zeigefinger über den Kopf.
»Wir reden von ihm hier, und er ist schon dort … Das sind sie, die Ausnahmen, die sich ununterbrochen wiederholen! Quand on parle d’une corde … «
Er richtete sich blitzschnell, mit einem Ruck, auf dem Sofa auf und lauschte an der Tür hinter dem Diwan.
Auch ich war zutiefst betroffen. Ich kombinierte, daß es sich wahrscheinlich um dieselbe junge Frau handelte, die vorhin in solcher Erregung davongestürzt war. Aber wie konnte Werssilow auch damit etwas zu tun haben? Plötzlich erhob sich wieder dasselbe Kreischen, das haltlose Kreischen eines in seinem Zorn besinnungslosen Menschen, dem man etwas verweigert oder der mit Gewalt zurückgehalten wird. Der Unterschied zu vorhin bestand darin, daß die Schreie und das Kreischen länger anhielten. Man hörte Kampfgeräusche und einzelne, atemlos hervorgestoßene Worte: »Ich will nicht, ich will nicht! Geben Sie her, geben Sie sofort her!« oder etwas Ähnliches – ich kann mich an den Wortlaut nicht mehr erinnern. Und dann, wie vorhin, stürzte jemand zur Tür und riß sie auf. Beide Nachbarinnen sprangen in den Korridor hinaus, die eine versuchte, wie vorhin, die andere zurückzuhalten. Stjebelkow, der längst vom Diwan aufgesprungen war und genüßlich gelauscht hatte, eilte zur Tür, riß sie auf und stürzte sofort bedenkenlos auf den Korridor hinaus, direkt auf die Nachbarinnen zu. Natürlich lief auch ich zur Tür. Aber sein Erscheinen im Korridor wirkte wie ein Eimer kalten Wassers: Die Nachbarinnen verschwanden sofort und schlugen ihre Tür laut hinter sich zu. Stjebelkow hatte schon einen Satz gemacht, um ihnen zu folgen, blieb aber stehen, hob lächelnd einen Zeigefinger und überlegte; dieses Mal sah ich in seinem Lächeln etwas außerordentlich Übles, Finsteres und Unheilverkündendes. Sobald er die Zimmervermieterin, die wieder in ihrer Tür erschienen war, gesehen hatte, lief er auf Zehenspitzen über den Korridor auf sie zu; nachdem er gut zwei Minuten mit ihr getuschelt und selbstverständlich die erforderlichen Erkundigungen von ihr eingezogen hatte, kehrte er nun entschlossen in das Zimmer zurück, nahm seinen Zylinder vom Tisch, warf einen Blick in den Spiegel, fuhr sich durchs Haar und begab sich, stattlich und selbstbewußt, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, zu den Nachbarinnen. Einen Augenblick horchte er an ihrer Tür, das Ohr an das Holz gepreßt und siegesbewußt über den Korridor hinweg der Vermieterin zuzwinkernd, die ihm darauf kopfschüttelnd mit dem Finger drohte, als wollte sie sagen: »Dieser Filou, dieser Filou!« Endlich klopfte er mit dem Fingerknöchel entschlossen, aber mit der rücksichtsvollsten Miene, gleichsam tiefgebeugt vor lauter Rücksicht, bei den Nachbarinnen an. Eine Stimme antwortete:
»Wer ist da?«
»Darf ich eintreten in einer überaus wichtigen Angelegenheit?« antwortete Stjebelkow laut und würdevoll.
Man zögerte, aber öffnete dennoch, nur einen Spaltbreit, nur zu einem Viertel. Stjebelkow aber packte sofort die Klinke und ließ ihnen keine Möglichkeit mehr, die Tür zuzuziehen. Es begann ein Wortwechsel. Stjebelkow redete laut und versuchte immer wieder, sich in das Zimmer zu drängen; ich erinnere mich nicht mehr an einzelne Worte, aber er sprach von Werssilow, daß er alles über ihn erzählen und alles erklären könne – »nein, wenn’s beliebt, mich müssen Sie fragen, zu mir müssen Sie kommen« und ähnliches. Er wurde sehr bald hereingelassen. Ich kehrte auf den Diwan zurück und wollte lauschen, aber ich konnte nicht verstehen, worum es ging, und hörte nur, daß oft Werssilows Name genannt wurde. Aus Stjebelkows Tonfall war zu schließen, daß Stjebelkow das Gespräch bereits beherrschte und nicht mehr einschmeichelnd wie anfangs, sondern gebieterisch und herablassend sprach, ähnlich wie vorher mit mir: »Folgen Sie mir?«, »jetzt passen Sie gefälligst auf« usw. Ansonsten mußte er wohl im Umgang mit Frauen
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