Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
erinnerte mich genau: Ich kam herein, erledigte den Auftrag und verabschiedete mich eine Minute später, ohne auch nur einen Augenblick Platz zu nehmen, zumal sie mich dazu nicht aufgefordert hatte.
Ich läutete. Die Köchin öffnete sofort und führte mich schweigend in die Wohnung. Diese Einzelheiten sind nämlich von großer Bedeutung, um zu verstehen, auf welche Weise es zu einem derart verrückten Abenteuer kommen konnte, das einen so gewaltigen Einfluß auf alles Folgende nehmen sollte. Also, erstens, die Köchin: Eine boshafte Person mit Himmelfahrtsnase, eine Tschuchonin , die ihre Herrin Tatjana Pawlowna haßte, wohingegen diese sich von ihr nicht trennen konnte, aus einer Art Schwäche, wie man sie bei alten Jungfern gegenüber alten triefnasigen Möpsen und ewig schlafenden Katzen häufig findet. Die Tschuchonin war entweder zornig und grob zu ihrer Herrin oder verstummte beleidigt für Wochen, um sie damit zu strafen. Vermutlich hatte ich ausgerechnet einen solchen Schweigetag getroffen, weil sie selbst meine Frage: »Ist die gnädige Frau zu Hause?«, an die ich mich mit Bestimmtheit erinnere, nicht beantwortete und stumm in der Küche verschwand. Darauf trat ich, selbstverständlich überzeugt, daß die Gnädige anwesend sei, in das Zimmer, um dort, in der Annahme, Tatjana Pawlowna würde sogleich aus dem Schlafzimmer erscheinen, auf sie zu warten; denn warum sonst hätte mich die Köchin hereingelassen. Ich setzte mich und wartete zwei, drei Minuten. In der Dämmerung schien die enge, dunkle Wohnung Tatjana Pawlownas durch den überall hängenden Chintz noch ungastlicher. Tatjana Pawlowna hätte mit ihrem Charakter, der hartnäckig und gebieterisch war, und auch infolge der alten Gepflogenheiten einer Gutsbesitzerin niemals zur Untermiete wohnen können und hatte diese Parodie einer Wohnung nur bezogen, um für sich allein und ihre eigene Herrin zu sein. Diese zwei Zimmer glichen genau zwei Kanarienvogelbauern, einer an den anderen gerückt, einer kleiner als der andere, und lagen im dritten Stock mit den Fenstern zum Hof. Wenn man die Wohnung betrat, fand man sich in einem winzigen Korridor, etwa anderthalb Arschin breit, von dem aus man links in die erwähnten Kanarienvogelbauer gelangte und geradeaus, am Ende, in die winzige Küche. Die anderthalb Kubikklafter Luft, die der Mensch in zwölf Stunden zum Atmen braucht, waren in diesen Räumen vielleicht noch gewährleistet, aber mehr auch nicht. Die Räume waren niedrig, geradezu häßlich niedrig, aber das schlimmste – alles, Fenster, Türen, Möbel waren mit Chintz behängt oder drapiert, mit ausgezeichnetem französischem Chintz, der mit kleinen Festons verziert war, aber dadurch wirkte der Raum doppelt dunkel und erinnerte an das Innere eines Reisewagens.
In dem Zimmerchen, in dem ich wartete, konnte man sich noch umdrehen, obwohl es mit Möbeln vollgestopft war, und zwar mit gar nicht so üblen: Da gab es verschiedene Tischchen mit Inkrustationen und Bronzebeschlägen, Truhen und eine elegante und sogar kostbare Spiegelkommode. Aber der angrenzende winzige Raum, der von dem ersten durch einen dichten Vorhang abgetrennt war, ihr Schlafzimmer, aus dem ich sie erwartete, bestand buchstäblich nur aus einem Bett. Alle diese Details sind unerläßlich, um die Dummheit zu verstehen, die ich beging.
Also, ich hatte gewartet, ohne alle Bedenken, als geläutet wurde. Ich hörte, wie die Köchin mit gemächlichen Schritten durch den Korridor ging und genauso schweigsam wie vorhin bei mir die Angekommenen hereinließ. Es waren zwei Damen, die sich laut unterhielten, und wie groß war meine Verblüffung, als ich an der Stimme der einen Tatjana Pawlowna erkannte und an der Stimme der anderen – eben die Frau, der zu begegnen ich im Augenblick am wenigsten bereit war, noch dazu in einer solchen Lage! Ein Irrtum war ausgeschlossen: Ich hatte diese klangvolle, metallische Stimme gestern gehört, freilich nur drei Minuten lang, aber sie ist mir in der Seele geblieben. Ja, es war die »Frau von gestern«. Was hätte ich tun sollen? Ich richte diese Frage keineswegs an den Leser, ich stelle mir nur den damaligen Augenblick vor und bin sogar jetzt noch nicht in der Lage zu erklären, wie es geschehen konnte, daß ich plötzlich hinter den Vorhang floh und mich in Tatjana Pawlownas Schlafzimmer fand. Mit einem Wort, ich versteckte mich im letzten Moment, bevor sie hereinkamen. Warum ich ihnen nicht entgegenging, sondern mich versteckte, das weiß ich nicht;
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