Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Petersburg …«
»Oh, er ist gestern zurückgekommen. Ich bin vorhin bei ihm gewesen … Eben deshalb bin ich in einer solchen Erregung zu Ihnen gekommen, mir zittern noch die Knie, ich wollte Sie bitten, Tatjana Pawlowna, mein Schutzengel, weil Sie die ganze Welt kennen, kann man nicht wenigstens in seinen Akten nachsehen, denn unter seinem Nachlaß muß es unbedingt auch Akten geben, die doch jetzt weitergeleitet werden müssen? Und möglicherweise wieder in irgendwelche gefährlichen Hände geraten? Ich bin zu Ihnen geeilt, um Ihre Meinung zu hören.«
»Aber von welchen Akten reden Sie?« Tatjana Pawlowna wunderte sich. »Aber Sie sagen doch, daß Sie selbst Kraft soeben aufgesucht haben?«
»Habe ich, habe ich, soeben, aber er hat sich erschossen! Schon gestern abend.«
Ich sprang vom Bett auf. Ich hatte es fertiggebracht sitzenzubleiben, als sie mich Spion und Idiot nannten, und je weiter sie in ihrer Unterhaltung fortschritten, desto unmöglicher schien es mir, vor ihnen zu erscheinen. Das wäre unvorstellbar gewesen! In meinem Herzen faßte ich den Entschluß auszuharren, bis Tatjana Pawlowna ihre Besucherin hinausbegleitet haben würde (wenn ich Glück haben sollte und sie nicht vorher irgend etwas aus dem Schlafzimmer holen wollte), um dann, sobald die Achmakowa gegangen wäre, einer Auseinandersetzung mit Tatjana Pawlowna, und sei es einer tätlichen, standzuhalten! Aber jetzt, plötzlich, als ich das von Kraft hörte, sprang ich vom Bett auf, von Kopf bis Fuß wie im Krampf. Rücksichtslos, gedankenlos, ja bedenkenlos machte ich einen Schritt, hob die Portiere und stand vor den beiden. Es war noch hell genug, um zu erkennen, daß ich totenblaß war und zitterte … Beide schrien auf. Wie sollten sie auch nicht aufschreien?
»Kraft?« murmelte ich, an die Achmakowa gewandt. »Erschossen? Gestern? Bei Sonnenuntergang?«
»Wo warst du? Woher kommst du?« kreischte Tatjana Pawlowna und krallte sich buchstäblich in meine Schulter. »Hast du spioniert? Hast du gelauscht?«
»Und was habe ich Ihnen eben gesagt?« Katerina Nikolajewna erhob sich vom Sofa und zeigte auf mich.
Ich geriet außer mir.
»Nichts als Lüge! Nichts als Unsinn!« fiel ich ihr wütend ins Wort. »Sie haben mich vorhin einen Spion genannt, o Gott! Lohnt es sich denn zu spionieren, lohnt es sich sogar, auf der Welt zu leben unter solchen Menschen wie Ihnen? Ein großmütiger Mensch begeht Selbstmord, Kraft hat sich erschossen – um einer Idee, um einer Hekuba willen … Freilich, woher sollten Sie etwas von Hekuba wissen! … Und hier – hier muß man inmitten Ihrer Intrigen leben, sich mit Ihren Lügen herumschlagen, inmitten von Lug und Trug und Hinterlist … Genug!«
»Ohrfeigen Sie ihn, ohrfeigen Sie ihn!« schrie Tatjana Pawlowna, aber da Katerina Nikolajewna mich zwar ansah (ich erinnere mich an alles bis auf das letzte I-Tüpfelchen), ohne die Augen von mir abzuwenden, aber auch ohne sich von der Stelle zu rühren, hätte Tatjana Pawlowna im nächsten Augenblick wahrscheinlich ihre Aufforderung selbst ausgeführt, so daß ich unwillkürlich den Arm hob, um mein Gesicht zu schützen, aber gerade diese Bewegung legte sie so aus, als holte ich selbst aus.
»Bitte, schlag zu, schlag zu! Beweise, daß du von Geburt ein Knecht bist! Du bist stärker als eine Frau. Wozu Umstände machen!«
»Schluß mit den Verleumdungen, Schluß!« schrie ich. »Niemals habe ich die Hand gegen eine Frau erhoben! Das ist schamlos, Tatjana Pawlowna, Sie haben mich schon immer verachtet. Oh, man soll die Menschen nicht achten, wenn man mit ihnen umgehen muß! Sie lachen, Katerina Nikolajewna, wahrscheinlich über meine Figur; stimmt, Gott hat mir eine andere Figur gegeben als Ihren Adjutanten, und dennoch fühle ich mich vor Ihnen nicht erniedrigt, sondern im Gegenteil, erhoben … Na ja, egal, wie man sich ausdrückt, aber ich bin nicht schuld! Ich bin ohne jede Absicht hierhergeraten, Tatjana Pawlowna; schuld ist nur Ihre Köchin, oder besser gesagt, Ihre Sympathie für diese Person: Warum hat sie auf meine Frage nicht geantwortet und mich schnurstracks hierhergeführt? Und dann, das werden Sie zugeben, kam es mir derart monströs vor, aus dem Schlafzimmer einer Frau zu erscheinen, daß ich entschlossen war, lieber mich schweigend von Ihnen anspucken zu lassen, als mich zu zeigen … Sie lachen schon wieder, Katerina Nikolajewna …«
»Raus! Raus! Verschwinde!« schrie Tatjana Pawlowna, indem sie mich beinahe aus dem Zimmer
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