Ein guter Blick fürs Böse
entführen! Es war ein gewagter Schritt, doch unsere Verschwörer sind offensichtlich verzweifelt.« Dunn schüttelte einen dicken Zeigefinger in meine Richtung. »Die Entdeckung, dass Thomas eine Tochter hatte, war ein Element, mit dem sie nicht gerechnet hatten, als sie dem armen Kerl nach England gefolgt sind. Es muss ein ziemlicher Schock für die beiden gewesen sein.«
»Ich denke, Sir, mit Hilfe unserer neuen Informationen sollte es jetzt möglich sein, die Lady erneut zu vernehmen.«
»Nun, Madame«, sagte ich eine kleine Weile später, nachdem ich ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Ich hoffe, die Nacht war nicht allzu unbequem für Sie.«
Sie ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Stattdessen bedachte sie mich mit einem verachtungsvollen Blick, der Bände sprach.
Sie war immer noch elegant in ihrer Witwenkleidung, und die schwarze Perücke saß fest auf ihrem Kopf. Zweifellos war ihre Gelassenheit nur vorgetäuscht, wenngleich recht überzeugend. Nicht mehr lange, wie ich hoffte.
»Wir haben Nachricht von der französischen Polizei, Madame«, begann ich.
Ihre Lider sanken kurz über die dunklen Augen herab, doch dann starrte sie mich auf ihre übliche direkte Art an. »Dann wissen Sie ja auch, dass unsere Ehe legal war.«
»Ja, Madame, so viel hat man uns gesagt … und noch viel mehr. Sie haben ein abwechslungsreiches Leben geführt, Madame.«
»Sie sind kein Narr, Inspector«, erwiderte sie kalt. »Sie wissen sehr gut, dass die Welt nicht freundlich ist gegenüber Frauen, die alleine sind. Ich war das uneheliche Kind einer Sängerin in den Cabarets von Montparnasse. Sie brachte mich als kleines Kind in die Ballettschule in der Hoffnung, dass ich eine Beschäftigung fand, die mich von der Straße fernhalten und mir ermöglichen sollte, letztendlich einen Beschützer zu finden, der reich genug war, um uns beide zu ernähren. Meine Mutter starb ein paar Jahre später an Schwindsucht. Ich musste mich immer auf meine eigenen Fähigkeiten verlassen, und ich habe überlebt, weil ich getan habe, was dazu nötig war. Aber ich wurde nie wegen eines Verbrechens angeklagt, Inspector!«
»Es gibt immer ein erstes Mal, Madame, für alles, heißt es. Die französische Polizei hat uns informiert, dass Sie vor Jahren beschuldigt wurden, junge Mädchen verkuppelt zu haben …«
Ihre Augen blitzten vor Empörung. »Ein Mädchen! Ein einziges Mädchen, und ich will Ihnen sagen, wie das war, Inspector, bevor Sie mir Vorträge halten! Ihre Eltern wollten sie zwingen, einen alten Mann zu heiraten, einen alten Mann, den sie verabscheute und fürchtete. Also lief sie von zu Hause fort. Ich fand sie bettelnd auf der Straße. Ich nahm sie mit zu mir nach Hause und versuchte ihr zu helfen, indem ich jemanden fand, der sich um sie kümmerte. Ich fand einen Beschützer, einen anständigen Mann, der sie gut behandelt hätte – doch genau in diesem Moment tauchten ihre Eltern wieder auf! Sie wollten ihre Tochter zurück. Sie beschuldigten mich, ihr unschuldiges Kind zu einem verabscheuungswürdigen, unmoralischen Leben verführt zu haben. Sie erstatteten Anzeige bei der Polizei. Die Polizei kam zu mir, und das arme Ding musste zurück in sein Elternhaus. Aber nicht, weil sie ihre Tochter wieder bei sich haben wollten, oh, nein – sie fürchteten das Gerede und den Skandal. Der alte Freier stand wieder vor der Tür, und weil das arme Ding diesmal keine Gelegenheit mehr bekam, vor ihm zu fliehen, schluckte es Rattengift, Arsen. Es ist ein furchtbarer Tod, Inspector. Die Polizei hatte plötzlich kein Interesse mehr daran, mich weiter zu verfolgen. Niemand erhob Anklage gegen mich vor Gericht. Und selbstverständlich ging niemand gegen die Eltern vor oder den dreckigen alten Lustmolch, der die Ursache für alles war!«
»Dennoch findet sich die Angelegenheit in Ihrer Polizeiakte, Madame. Wenn das zutrifft, was Sie sagen, dann war das in der Tat eine unglückselige Geschichte.«
»Die Polizei in ganz Europa und überall sonst auf der Welt wohl auch hängt an ihren Akten, denke ich. Möglicherweise wollen sie den Steuerzahlern auf diese Weise suggerieren, dass ihr Geld gut angelegt ist«, sagte Victorine.
Ich beschloss, das Thema auf sich beruhen zu lassen. Ich wurde es allmählich leid, mich immer wieder von ihr übertrumpfen zu lassen.
»Reden wir von Ihrem Partner, Hector Mas«, sagte ich. »Bei ihm sieht die Sache schon ganz anders aus. Seine Akte ist ziemlich dick, und keiner der Berichte darin steht in Zweifel.
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