Ein guter Blick fürs Böse
beeinflusst deine Einschätzung des Vorfalls.«
»Nein!«, protestierte ich. »Ich habe gesehen …«
»Du hast einen Mann in greller Kleidung gesehen, mit einem bemalten Gesicht, der am Ufer mit Bällen jongliert hat. Der Anblick hat dir Angst gemacht.« Er beugte sich vor und ergriff meine Hand. »Später hast du die gleiche Angst auslösende Gestalt vor dir auf der Brücke gesehen. Der Clown selbst hat dir nach eigener Aussage keine Beachtung geschenkt. Lediglich du hast seine Anwesenheit wahrgenommen. Wie es zufällig scheint, war Thomas ein wenig früher auf der Brücke und befand sich daher vor dem Clown. Für dich in deiner Panik sah es danach aus, als würde der Clown Thomas verfolgen …«
Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch er signalisierte mir zu warten, bis er mit seinen Ausführungen fertig war.
»Für dich, das musst du dir bewusst machen, ist der Clown eine finstere Gestalt und muss demzufolge auch eine finstere Absicht haben. In deinen Augen kann er kein bloßer Straßenkünstler sein, der lediglich versucht, ausreichend Pennies einzusammeln, die er nach Hause bringen kann, wo womöglich Frau und Kinder auf ihn warten. Sie müssen ernährt und die Miete muss gezahlt werden. Er hat kein anderes Einkommen. Ich könnte mir vorstellen, Lizzie, meine Liebe, dass du dich insgeheim für deine irrationale Angst schämst. Daher suchst du nach einer Rechtfertigung. Dieser Clown muss einfach böse sein. Aber so ist es nicht, Liebling.«
Es stimmt, dass dies mehr oder weniger meine eigenen Gedanken gewesen waren am Abend des Tages, als ich den Clown gesehen hatte. Ich selber hatte mir versucht einzugestehen, dass meine Angst um Thomas Tapley Ausdruck meiner eigenen Angst vor dem Clown war. Doch ich mochte nicht, dass Ben es mit solcher Bestimmtheit äußerte, nicht nach allem, was in der Zwischenzeit passiert war. Ich entzog ihm meine Hand. »Also schön«, antwortete ich steif. »Ich werde den Clown nicht wieder erwähnen. Doch ich bleibe bei meiner Meinung. Außerdem war ich dort, du hingegen nicht.«
»Das streite ich nicht ab. Ich möchte überhaupt nicht mit dir streiten. Doch auf die Gefahr hin, dass ich dich ein weiteres Mal kränke, Lizzie, muss ich dir mitteilen, dass ich morgen erst spät am Abend nach Hause kommen werde. Ich werde in einem Lokal zu Abend essen. Koch bitte nichts für mich.«
»Wohin gehst du?«, fragte ich neugierig.
»Ich will versuchen, Jonathan Tapley zu Hause zu erwischen. Ich möchte ihn in seinen eigenen vier Wänden befragen. Ich möchte Mrs. Tapley und insbesondere Miss Flora Tapley kennenlernen. Ich möchte den beiden mein Beileid aussprechen. Sein Haus steht übrigens am Bryanston Square, nicht weit entfernt von deiner Tante Parry in Marylebone.«
»Sie sind in Trauer«, mahnte ich ihn. »Sie werden es nicht gut finden, wenn du dort auftauchst, insbesondere, wenn du unangemeldet kommst.«
Ben schenkte mir ein grimmiges Lächeln. »Niemand mag es, wenn die Polizei an der Tür klingelt, und es ist eine schlechte Angewohnheit von uns, unangemeldet aufzutauchen. Ich gebe dir Recht, dass Jonathan nicht begeistert sein wird, doch er wird keineswegs überrascht sein. Ich bin der Sohn eines Bergarbeiters, und gesellschaftliche Konventionen sind mir fremd. Ich habe keine Gewissensbisse, einen Gentleman nach Tisch bei seinem Port und seiner Zigarre zu stören. Bisher hat mich dieser Mann auf äußerst geschickte Art manipuliert. Es ist an der Zeit, den Herrn, der die Tricks aus dem Gerichtssaal so gut beherrscht, in seine Schranken zu weisen.«
»Du magst ihn nicht«, stellte ich fest, und in meine Stimme schlich sich ein triumphierender Unterton. »Genauso wenig wie ich.«
»Du bist ihm doch noch gar nicht begegnet«, tadelte er mich.
»Das ist auch nicht nötig. Ich missbillige die Art, wie er sich verhält. Außerdem magst du ihn nicht, und wie es aussieht, habe ich deine Meinung zu respektieren und darf mir kein eigenes Urteil bilden. Du hast Recht in Bezug auf den Clown und in Bezug auf Jonathan Tapley.«
Erneut herrschte Stille zwischen uns. »Die Sache ist noch nicht ausgestanden, stimmt’s?«, fragte Ben resigniert.
»Nein, Inspector Ross, selbstverständlich nicht! Aber keine Sorge. Ich bringe das Thema nicht mehr zur Sprache, bevor ich keine neuen Informationen für dich habe. Das heißt, sofern du überhaupt Interesse hast an dem, was ich möglicherweise herausfinde.«
»Lizzie …«, warnte er mich. »Sei vorsichtig.«
»Oh, ich habe nicht
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