Ein guter Blick fürs Böse
war, und warum sie in letzter Sekunde ihre Meinung geändert hatte.
»Nun«, sagte ich zu Lizzie, als ich spät am Abend nach Hause kam und meine Frau vor dem gemütlich glimmenden Feuer unseres Kamins sitzend vorfand. In der Küche hatte ein Teller mit kaltem Braten für mich bereitgestanden. Ich hatte ihn mit in den Salon und Lizzie gegenüber Platz genommen, nachdem ich mein Tablett auf einem Beistelltisch abgesetzt hatte. »Ich bin Jonathan in seiner Höhle entgegengetreten – beziehungsweise im Schoß seiner Familie – und ich habe überlebt.«
»Ich nehme an, dass er keinen kalten Braten zum Abendessen hatte«, entgegnete Lizzie schmunzelnd.
»Er war beim Essen oder gerade erst fertig und somit nicht besonders erfreut – genau wie du es vorrausgesagt hattest. Andererseits war er nicht wirklich überrascht. Genauso wenig wie die beiden Frauen, vermute ich. Ich hatte dir ja gesagt, dass es so sein würde. Sie stehen unter Verdacht und sind ständig auf der Hut.«
»Wie ist Flora so?«, fragte Lizzie neugierig.
»Sie ist keine Schönheit, doch nichtsdestotrotz eine attraktive junge Lady. Ihr Gesicht zeugt von Charakter und lässt eine gewisse Tiefe erahnen. Aus einer Gruppe normal hübscher Mädchen würde sie herausstechen. Ich denke, dass sie intelligent und geistreich ist. Doch auch wenn sie noch jung ist, so trägt sie eine Last mit sich herum.« Ich berichtete, wie Flora mir auf die Straße hinterhergerannt war.
Lizzie blickte nachdenklich drein. »Wie viel weiß sie deiner Meinung nach wirklich über ihren Vater?«
»Über seine skandalöse Vergangenheit, meinst du? Vielleicht ein wenig mehr, als ihr Onkel und ihre Tante, wie sie sie nennt, für möglich halten. Ihre Tante Maria reagiert sehr aufgebracht auf dieses Thema.«
»Und würde sie auch so reagieren, wenn irgendetwas oder irgendjemand Anstalten machte, Flora oder ihre Heiratsaussichten zu gefährden?«, fragte Lizzie scharfsinnig.
»Oh, ja«, erwiderte ich vermutlich ein wenig undeutlich, da ich noch auf dem Braten kaute. »Ganz sicher würde sie das, und sie ist keine Frau, die davor zurückschrecken würde, jeden Schritt zu unternehmen, den sie für notwendig hält.«
»Dann ist sie also genauso verdächtig wie ihr Ehemann?«, hakte Lizzie eifrig nach.
»Ich weiß bis jetzt nichts von irgendwelchen Verdächtigen«, stellte ich fest. »Doch allmählich entwickeln sich einige interessante Möglichkeiten. Lizzie, ich muss nach Harrogate und dort mit jemandem von der Kanzlei Newman und Thorpe sprechen. Sie haben sich um sämtliche Angelegenheiten von Thomas gekümmert und sind wohl – da sie vermutlich im Besitz seines Testaments sind – immer noch für seine Angelegenheiten zuständig. Man ist allgemein der Ansicht, dass Flora seine alleinige Erbin ist. Doch ist das tatsächlich so? Niemand hat das bisher erwähnt. Jedenfalls hat Thomas in Harrogate gelebt, bevor er auf den Kontinent gezogen ist. Er hat in Harrogate geheiratet, und in Harrogate wurde Flora geboren. Wenn ich morgen mit dem ersten Zug fahre, kann ich vielleicht ein Treffen im Büro von Newman und Thorpe vereinbaren. Vielleicht erfahre ich dort auch ein paar weitere Namen von Leuten, mit denen es sich zu sprechen lohnt. Ich befürchte, dass ich über Nacht bleiben muss, wenn ich all meine Recherchen abschließen möchte. Ich muss Superintendent Dunn überzeugen, dass die Ausgaben unvermeidbar sind.«
Und das würde vermutlich der schwierigste Teil der ganzen Übung werden.
»Wie geht es deiner Tante Parry?«, erinnerte ich mich zu fragen.
»Oh, sehr gut. Sie hat eine neue Gesellschafterin. Eine Miss Laetitia Bunn.«
»Denkst du, dass sie bleiben wird?«
»Nicht lange«, gestand Lizzie. »Nicht, seitdem sie weiß, dass eine der vorherigen Gesellschafterinnen ermordet wurde. Wahrscheinlich schreibt sie schon Briefe auf der Suche nach einer neuen Anstellung.«
»Genau wie die Magd der Witwe Jameson«, stellte ich fest.
»Tante Parry wusste alles über die Familie Tapley und den Mord an Thomas Tapley. Es ist das Thema in der Nachbarschaft. Bessie hat herausgefunden, dass eines von Tante Parrys Hausmädchen mit einem Diener der Tapleys ausgeht. Er hat dem Hausmädchen erzählt, dass Jonathan Tapley in schlechter Stimmung ist und im ganzen Haushalt große Erregung herrscht. Das Mädchen hat es Bessie weitererzählt.«
»Ich vermute, dass sie noch ein wenig erregter sind, nachdem ich dort vorbeigeschaut habe«, sagte ich zu ihr. »Gibt es sonst noch etwas
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