Ein guter Mann: Roman (German Edition)
hatten, Melanie und ich. Mehr als zwei Jahre lang, glaube ich. Vielleicht hätte ich mit dir darüber reden sollen. Es war so ein schreckliches Nebeneinander, weißt du. Und Melanie hat wohl geglaubt, das müsse so sein und das könne irgendwann repariert werden. Aber dann bin ich gestern hingegangen und habe ihr gesagt, dass ich für eine Weile ausziehe. Und mein Chef hat mir ein kleines Apartment besorgt, eine widerliche Bleibe, sage ich dir. Ganz schrecklich. Mit einem Teppichboden, der so aussieht, als hätten die Leute darauf gekocht. In den Badecken blüht der Schimmel. Anna-Maria weiß das alles noch nicht, klar, aber ich werde es ihr sagen, sobald die Zeit gekommen ist …«
Das Gesicht bewegte sich nicht, die ganze Szenerie kam ihm plötzlich wie ein Foto vor, wie etwas, was sich niemals bewegen wird.
»Und dann ist mir heute Nacht etwas passiert, was mich ganz unruhig macht, aber ehrlich gestanden auch glücklich. Das Verrückte ist, dass es mich nicht einmal stört. Na ja, ich bin auch deshalb gekommen, weil ich mit dir darüber reden will. Also, ich fahre manchmal in eine Hotelbar, um einen Whisky zu trinken. Da war gestern Abend eine Frau, Karen heißt sie. Sie ist schön und intelligent, und wir wollten miteinander reden, wie Fremde eben so reden. Und wir sind in ihr Zimmer gegangen. Seitdem bin ich unruhig, weil ich nicht weiß, was ich zum Beispiel Anna-Maria sagen soll, obwohl ich genau weiß, dass ich Anna-Maria gar nichts sagen werde, sie ist ja erst fünf.«
Das Gesicht seines Vaters zeigte nicht die geringste Veränderung, die Augen sahen nichts, wanderten nicht, kein Muskel zuckte.
»Also, es ist so: Ich habe mir vorgestellt, dass ich ein schlechtes Gewissen haben müsste wegen Melanie. Schließlich ist sie meine Ehefrau. Aber jetzt tut mir gar nichts Leid, und ich denke, das Ganze geht Melanie überhaupt nichts an, weil es allein mein Leben ist und nicht mehr auch ihr Leben und …«
»Das kenne ich«, sagte sein Vater ziemlich deutlich.
Müller ließ die Hand los und beugte sich weit vor. »Du sprichst ja, Mensch, du sprichst ja.« Vor Aufregung war seine Stimme ganz hoch.
Das Gesicht des Vaters wirkte gänzlich unbewegt, die Augen standen weit offen, kein Schimmer des Erkennens darin.
Müller schob den Stuhl zurück und sprang auf den Flur. Er suchte nach der Schwester, fand sie schließlich, wie sie in einer Kammer eine Spritze aufzog.
»Kann es sein, dass mein Vater plötzlich einen kompletten Satz sagt? Und zwar einen, aus dem hervorgeht, dass er mir zugehört hat?«
»Das kommt vor«, nickte sie. »Aber machen Sie sich nicht zu viel Hoffnung. Dieses partielle Bewusstsein kommt sogar häufig vor. Bedeutet aber nicht unbedingt Besserung.«
»Ja«, hauchte Müller mutlos.
Er ging zurück an das Bett seines Vaters, legte wieder die Hand auf die seine und fragte: »Was daran kennst du denn? Gab es eine Frau in deinem Leben? Eine andere Frau als Mama?«
Der Vater reagierte nicht.
Müller sagte leise und bitter: »Verdammt noch mal«, setzte dann »Ich liebe dich doch« hinzu und ging fort.
Er konnte es nicht aushalten. Als dann im Autoradio John Lennons »Woman« kam, fuhr er rechts an den Straßenrand und brauchte Minuten, um sich in dieser Welt wieder zurechtzufinden.
Zwischenspiel
Benno Bohnen verließ um sechs Uhr früh seine Wohnung, ging durch die Toreinfahrt zur Garage und ließ den Mercedes-Sprinter ungefähr zehn Meter nach vorn in den Hof rollen. Er war früh dran, und das war gut so, denn möglicherweise würde sein Partner Stahlmann noch in der Falle liegen und schnarchen. Weil er mal wieder die ganze Nacht in einem Buch gelesen hatte. Stahlmann machte so etwas dauernd.
Er stieg aus und schloss das Tor der Garage mit dem Schlüssel zu. Das hatten sie als Bedingung genannt: Kein automatisches Tor! Ist zu anfällig! Sie machen aus jedem Furz einen Blizzard, dachte er gut gelaunt.
Er rief mit dem Handy in der Zentrale an und flötete: »Hier ist der heiße Benno mit einer Nachricht für euch Schnarchnasen. Es ist sechs Uhr null fünf. Ihr könnt meine Ladefläche schließen, ich melde mich, wenn ich in Hamburg bin.«
Ein Mann erwiderte nicht sonderlich interessiert: »Gut, Benno. Ich nehme an, du bis gegen neun in Hamburg. Du meldest dich vom Kai. Polizei und Zoll sind verständigt. Ich schließe jetzt.«
Es klackte neben Bohnen, dann gab es ein schleifendes Geräusch, die schweren Stahlriegel schoben sich vor. Niemand, auch nicht Benno Bohnen selbst, würde
Weitere Kostenlose Bücher