Ein Hauch Vanille (German Edition)
Warum. Weswegen er auch immer alles viel
schneller verkraften konnte als ich. Er stand einfach über den Dingen und besaß
die nötige Gelassenheit, etwas hin zu nehmen, wenn er es sowieso nicht ändern
konnte. Ganz im Gegensatz zu mir, die ich nachts stundenlang wach lag und mich
einfach nicht mit meinem Schicksal abfinden konnte. Nur um letztendlich doch
wieder in Selbstmitleid zu versinken und mich in den Schlaf zu weinen. Deshalb
legte ich all meine Hoffnung in den Umzug. Vielleicht würde er ja tatsächlich
die Lösung all unserer Probleme bedeuten. Und vielleicht würde Anne letztendlich
sogar recht behalten. Ich hoffte es jedenfalls inständig…
„Mama?“
wiederholte Michi seine Frage und riss mich aus meiner Gedankenwelt zurück in
die Realität.
„Nein“, antwortete ich. Dann sprach ich ganz langsam und betonte jede einzelne
Silbe, damit er sie leichter verstehen und von meinen Lippen ablesen konnte:
„Sag mal: Lil-ly! “ Woraufhin er sofort ärgerlich mit beiden Beinen
strampelte und sein Gesicht im Polster seiner Kopfstütze vergrub.
„Umpf, Mama!“ protestierte er vorwurfsvoll. Verständnislos schüttelte ich den
Kopf und blickte durch die Autoscheibe hinaus.
Die
Fahrbahn zog sich, einer Serpentinenstraße gleich, in immer enger werdenden
Rechts- und Linkskurven den Berg hinauf, so dass es mich trotz Gurt, in beide
Richtungen in die um mich liegenden Kissen drückte. Wohin die Straße führte,
gab sie aber noch immer nicht Preis. Wegen der vielen Kurven konnte ich einfach
nichts erkennen.
Schon
wieder beschlich mich dieses mulmige Gefühl, dass mich auch schon gestern, am
letzten Schultag, befallen hatte. Ich fragte mich, warum ich nicht mehr aus mir
herausgegangen war, als ich mich von meinen Freunden und Schulkameraden
verabschieden musste. Warum hatte ich ihnen nicht gezeigt, wie sehr ich sie
mochte und wie sehr ich sie vermissen würde? Einzig meiner besten Freundin
Petra fiel ich um den Hals, während ich bei den anderen vergebens auf den
richtigen Moment gewartet hatte. Insgeheim spekulierte ich sogar darauf, dass
unsere Lehrerin noch etwas Melancholisches zum Besten geben würde. Aber das war
wohl zu viel des Guten, denn Frau Aschenbach war sicher mehr als glücklich darüber,
dass wir die Schule verließen. Schließlich hatten wir sie laut schreiend mit
einer Maus durch das gesamte Schulgebäude gejagt und so vor allen Schülern und
dem gesamten Kollegium lächerlich gemacht. Da war sie wohl etwas nachtragend.
Aber warum erzählte sie uns auch, dass sie eine Heidenangst vor Mäusen hatte,
obwohl sie doch genau wusste, dass wir welche besaßen? Es war wie eine
Herausforderung an uns, die wir einfach annehmen mussten. Wer hätte da schon widerstehen
können?
Es
fehlte mir etwas und wie immer wartete ich darauf, dass jemand auf mich zukam,
anstatt selbst die Initiative zu ergreifen. Aufgrund der daraus resultierenden
inneren Leere und der tiefen Traurigkeit, die unbändig zu sein schien, redete
ich mir ein, dass mich sowieso niemand vermissen würde. Woraufhin mir ein paar
Tränen die Wangen hinunter liefen, die ich mir aber schnell beiseite wischte.
Tränen durfte niemand bei mir sehen, denn die würden bedeuten, dass ich
verletzbar wäre und verletzlich wollte ich auf keinen Fall sein. Ich hatte mir
ein dickes Fell zugelegt, das mich vor äußeren Angriffen schützte. Deshalb
konnte und wollte ich mir keine Schwäche leisten. Es hätte einfach nicht zu mir
gepasst, sie hätten mich sofort durchschaut und gewusst, dass alles nur Fassade
war.
Ein
weißes Dreieck mit rotem Außenrand und einer schwarzen Kuh darauf, das
Verkehrsschild für Viehtrieb, riss mich aus meiner Lethargie.
„Na Super“, murmelte ich bei dessen Anblick und schüttelte fassungslos den Kopf.
Obwohl ich das Schild noch nie zuvor gesehen hatte, wusste ich sofort was es
bedeutete: Wir waren am Arsch. Am Arsch der Welt!
Das unbehagliche Gefühl wechselte zu einer tiefen Beklemmung und schnürte mir
die Kehle zu. Ich zog mich an Roberts Sitz nach vorn und starrte meine Mutter
an. Dann musste ich mich erst räuspern, bevor ich etwas sagen konnte, denn die
Angst hatte nun auch von meiner Stimme Besitz ergriffen.
„Wie weit ist es noch?“ fragte ich dünn und kniff misstrauisch die Augen
zusammen. Plötzlich tat sie ganz geheimnisvoll.
„Lasst euch doch mal überraschen!“ Sie
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