Ein Hauch von Schnee und Asche
Eindruck. »Urkundenfälschung.«
Zu meiner großen Überraschung lachte ich. Ich fühlte mich zwar noch wackelig, aber Mrs. Ferguson entpuppte sich definitiv als willkommene Ablenkung.
»Wie lange seid Ihr schon hier?«, fragte ich.
Sie kratzte sich am Kopf, merkte, dass sie keine Haube trug, drehte sich um und zog diese aus der zerwühlten Bettwäsche.
»Oh – einen Monat ungefähr.« Sie setzte die zerknitterte Haube auf und
wies kopfnickend auf den Türpfosten neben mir. Ich folgte ihrer Blickrichtung und sah, dass er mit Dutzenden kleiner, kreuzweise eingeritzter Kerben übersät war, zum Teil alt und vom Schmutz verdunkelt, zum Teil frisch hineingekratzt, so dass das rohe, gelbe Holz zu sehen war. Der Anblick der Kerben ließ mir den Magen erneut in die Knie rutschen, doch ich holte tief Luft und kehrte ihnen den Rücken zu.
»Hat man Euch schon den Prozess gemacht?«
Sie schüttelte den Kopf, und das Licht glitzerte in ihren Brillengläsern.
»Nein, zum Glück nicht. Ich höre von Maisie, dass das Gericht geschlossen ist, weil alle Richter untergetaucht sind. In den letzten zwei Monaten hat es keine Prozesse gegeben.«
Das war keine gute Nachricht. Dieser Gedanke war meinem Gesicht offenbar anzusehen, denn sie beugte sich vor und tätschelte mir mitfühlend den Arm.
»Ich hätte da keine Eile, Herzchen. Nicht in Eurer Lage. Solange sie Euch nicht vor Gericht gestellt haben, können sie Euch auch nicht hängen. Ich bin zwar schon Leuten begegnet, die behaupten, dass das Warten sie noch umbringt, aber ich habe noch keinen daran sterben sehen. Und ich habe genug am Ende eines Stricks sterben sehen. Das ist wirklich unangenehm.«
Sie sagte es beinahe sorglos, doch ihre Hand hob sich wie automatisch und berührte die fleischige weiße Haut an ihrem Hals. Sie schluckte, und ihr kleiner Kehlkopf hüpfte auf und ab.
Ich schluckte ebenfalls, denn meine Kehle fühlte sich unangenehm zugeschnürt an.
»Aber ich bin unschuldig«, sagte ich und fragte mich, noch während ich die Worte aussprach, wie es möglich war, dass ich so unsicher klang.
»Natürlich seid Ihr das«, beruhigte sie mich lapidar und drückte mir den Arm. »Lasst Euch nicht davon abbringen, Herzchen – lasst Euch nicht dazu einschüchtern, auch nur das Geringste zuzugeben!«
»Das werde ich nicht!«, versicherte ich ihr trocken.
»Eines Tages kommt der Pöbel sowieso hierher «, sagte sie kopfnickend. »Dann knüpfen sie den Sheriff auf, wenn er nicht aufpasst. Er ist nicht sehr beliebt, Tolliver.«
»Das verstehe ich gar nicht – so ein charmanter Kerl.« Ich war mir nicht sicher, was ich von der Vorstellung halten sollte, dass das Haus gestürmt wurde. Sheriff Tolliver aufzuknüpfen, war ja so weit gut und schön – aber da meine Erinnerungen an die feindseligen Menschenaufläufe in Salisbury und Hillsboro noch frisch waren, war ich mir nicht so sicher, dass sie sich auf den Sheriff beschränken würden. Durch einen Lynchpöbel zu sterben, war dem langsameren Justizmord, der mir wahrscheinlich bevorstand, nicht unbedingt vorzuziehen. Obwohl es wahrscheinlich immer eine Möglichkeit gab, dem Aufruhr zu entfliehen.
Und dann wohin zu gehen? , fragte ich mich.
Da ich keine gute Antwort auf diese Frage hatte, verdrängte ich sie und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Mrs. Ferguson, die mir unverdrossen einladend die Karten hinhielt.
»Nun gut«, sagte ich. »Aber nicht um Geld.«
»Oh, nein«, versicherte mir Mrs. Ferguson. »Bewahre. Aber wir brauchen irgendeinen Einsatz, damit es interessant wird. Wir spielen um Bohnen, ja?« Sie legte die Karten hin, wühlte unter dem Kissen und zog einen kleinen Beutel hervor, aus dem sie eine Hand voll kleiner weißer Bohnen ausschüttete.
»Bestens«, sagte ich. »Und wenn wir fertig sind, pflanzen wir sie ein und hoffen, dass eine riesige Bohnenranke daraus wird, die durch das Dach wächst, so dass wir daran flüchten können.«
Sie brach in Gekicher aus, und mir ging es plötzlich irgendwie ein wenig besser.
»Euer Wort in Gottes Ohr, Herzchen!«, sagte sie. »Ich gebe zuerst, ja?«
Brag entpuppte sich als eine Art Poker. Und ich lebte zwar schon lange genug mit einem Kartenbetrüger zusammen, um einen zu erkennen, wenn ich einen sah, doch Mrs. Ferguson schien ehrlich zu spielen – vorerst. Es stand sechsundvierzig Bohnen für mich, als Mrs. Tolliver zurückkehrte.
Die Tür öffnete sich unangemeldet, und sie kam mit einem dreibeinigen Hocker und einem Stück Brot herein.
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