Ein Hauch von Schnee und Asche
Letzteres schien sowohl mein Abendessen als auch ihre Ausrede für den Besuch der Zelle zu sein, denn sie reichte es mir mit einem lauten: »Das muss bis morgen reichen, Mrs. Fraser.«
»Danke«, sagte ich freundlich. Es war frisch und schien an Stelle von Butter hastig durch Schinken-Bratfett gezogen worden zu sein. Ich biss ohne Zögern hinein, da ich mich jetzt so weit von meinem Schrecken erholt hatte, dass ich tatsächlich ziemlichen Hunger hatte.
Mrs. Tolliver spähte hinter sich, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein war, stellte den Hocker nieder und zog eine bauchige, blaue Flasche aus ihrer Tasche, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war.
Sie zog den Korken heraus, hielt sich die Flasche an den Mund, kippte sie und trank in tiefen Zügen, wobei sich ihr langer, dünner Hals krampfhaft bewegte.
Mrs. Ferguson schwieg und beobachtete die Vorgänge mit einer Art analytischer Aufmerksamkeit durch ihre glitzernde Brille, als vergliche sie Mrs. Tollivers Verhalten mit früheren Gelegenheiten.
Mrs. Tolliver ließ die Flasche sinken und hielt sie noch einen Moment fest, dann reichte sie sie mir abrupt und setzte sich plötzlich schwer atmend auf den Hocker.
Ich wischte den Flaschenhals so unauffällig wie möglich an meinem Ärmel ab, dann trank ich anstandshalber einen Schluck. Es war wirklich Gin – stark mit Wacholderbeeren gewürzt, um die schlechte Qualität zu tarnen, aber hochprozentig.
Jetzt trank Mrs. Ferguson einen kräftigen Schluck, und so fuhren wir fort, uns gegenseitig die Flasche zu reichen und dabei kleine Freundlichkeiten auszutauschen. Nachdem ihr erster Durst gelöscht war, wurde Mrs. Tolliver ausgesprochen umgänglich, und ihre frostige Miene taute beträchtlich auf. Dennoch wartete ich ab, bis die Flasche fast leer war, bevor ich die Frage stellte, die mir am wichtigsten war.
»Mrs. Tolliver – die Männer, die mich hergebracht haben – habt Ihr sie zufällig irgendetwas über meinen Mann sagen hören?«
Sie hielt sich die Faust vor den Mund, um einen Rülpser zu unterdrücken.
»Etwas sagen?«
»Darüber, wo er ist«, verbesserte ich.
Sie blinzelte mit ausdrucksloser Miene.
»Ich habe nichts gehört«, sagte sie. »Aber vielleicht haben sie Tolly etwas gesagt.«
Mrs. Ferguson reichte ihr die Flasche – wir beide saßen nebeneinander auf dem schmalen Bett, das die einzige Sitzgelegenheit in dem kleinen Raum war.
»Du könntest ihn aber doch fragen, oder, Maisie?«, sagte sie.
Obwohl sie schon glasig waren, nahmen Mrs. Tollivers Augen einen beklommenen Ausdruck an.
»O nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Über solche Dinge redet er nicht mit mir. Das geht mich nichts an.«
Ich wechselte einen Blick mit Mrs. Ferguson, und sie schüttelte kaum merklich den Kopf; besser, wenn ich jetzt nicht weiter darauf beharrte.
In meiner Sorge fiel es mir schwer, das Thema fallen zu lassen, doch ich konnte eindeutig nichts tun. Ich nahm all meine restliche Geduld zusammen und rechnete mir aus, wie viele Flaschen Gin ich mir noch leisten konnte, bevor mir das Geld ausging – und was ich wohl damit bewerkstelligen konnte.
Ich lag still in dieser Nacht und atmete die feuchte, stickige Luft mit ihren Schimmel- und Uringerüchen. Ich konnte auch Sadie Ferguson neben mir riechen; eine schwache Wolke aus abgestandenem Schweiß, die von einem starken Ginaroma überlagert wurde. Ich versuchte, die Augen zu schließen, doch jedes Mal, wenn ich das tat, überspülten mich kleine Wellen der Klaustrophobie; ich konnte spüren, wie die schwitzenden Putzwände näher rückten, und krallte meine Fäuste in den Matratzenbezug, um mich nicht gegen die Tür zu werfen. In meiner Einbildung sah ich mich hämmern und kreischen, meine Nägel angebrochen und blutig, weil ich sie in das unnachgiebige Holz geschlagen hatte, meine Schreie ungehört in der Dunkelheit – und niemals kam jemand.
Ich hielt es für absolut möglich. Von Mrs. Ferguson hatte ich noch mehr darüber gehört, wie unbeliebt Sheriff Tolliver war. Wenn er von einem aufgebrachten
Pöbel angegriffen und aus seinem Haus gezerrt wurde – oder die Nerven verlor und die Flucht ergriff -, war es unwahrscheinlich, dass er oder seine Frau an die Gefangenen dachten.
Der Pöbel konnte uns finden – und uns umbringen, im Wahn des Augenblicks. Oder uns nicht finden und das Haus in Brand stecken. Die Vorratskammer bestand aus Lehmziegeln, doch die daran angrenzende Küche hatte Holzwände; feuchte Luft oder nicht, das Haus
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