Ein Hauch Von Sterblichkeit
Wurzeln. Vieh und Pferde waren auf die Weiden gebracht worden. Die Caswells fuhren auch an den beiden wunderschönen Pferden vorbei, die Sally schon bei ihrer letzten Autofahrt bewundert hatte. Eines war schwarz, das andere kastanienbraun. Sally musste an Black Beauty denken und an Ginger aus dem berühmten Buch von Anna Sewell.
Das Schweigen führte nach einer Weile trotzdem zu einer angespannten Atmosphäre. Sally nahm einen Taschenspiegel hervor und spähte misstrauisch auf ihr bleiches, verkrampftes Spiegelbild. Liam, der sie dabei beobachtete, versuchte die Dinge zu entspannen.
»Was für ein schöner Tag! Kaum zu glauben, dass bald
Weihnachten ist.«
»Wie kannst du nur erwarten, dass ich an Weihnachten denke?«, fragte sie und schob den Spiegel zurück in die Tasche.
»Ich kann an überhaupt nichts denken! Das Leben ist ein einziger Albtraum!«
»Du bist immer noch nicht wieder auf dem Damm. Sobald wir zu Hause sind, legst du dich ins Bett. Ich mache dir später etwas zum Mittagessen.« Der neue, liebevolle Liam war noch schwerer zu ertragen als der alte, missmutige.
»Ich will nichts zu essen, danke! Ich glaube nicht, dass ich je wieder etwas essen kann! Du musst nicht bei mir zu Hause bleiben, Liam! Ich komme schon zurecht. Es wäre besser, wenn du nach Oxford fährst und dich um deine Arbeit kümmerst.« Er wollte widersprechen, doch ein Seitenblick auf ihr starres Gesicht änderte seine Meinung.
»Was immer du willst«, brummte er. Was immer ich will, dachte sie. Wann habe ich je getan oder gemacht, was ich wollte? Sie war in dem Glauben erzogen worden, dass man nicht selbstsüchtig sein darf. Stets bereit, den Wünschen anderer entgegenzukommen. Was dich jedoch nicht, so dachte sie bitter, auf die Selbstsucht anderer vorbereitet! Doch es war falsch, dumm, ihre Erziehung verantwortlich zu machen. Sie hätte die Fehler in ihren Grundsätzen vor Jahren erkennen, sie alle über Bord werfen und lernen müssen, für sich selbst zu kämpfen. War es heute dazu zu spät? Sie hatten die ersten Häuser des Dorfs erreicht. Liam steuerte um eine Kurve herum und trat mit einem Schreckensruf, gefolgt von einem Fluch, mit aller Macht auf die Bremse. Mit quietschenden Bremsen kam der Wagen zum Halten. Sally wurde in den Sicherheitsgurt geschleudert und streckte die Hand aus, um sich am Armaturenbrett abzustützen.
»Sieh dir das an!« Liam hämmerte mit der Faust auf das Lenkrad.
»Was zum Teufel hat das nun schon wieder zu bedeuten?« Die Straße war verstopft mit einer bunt durcheinander gewürfelten Menschenmenge. Chefin von alledem war Yvonne Goodhusband in Hosen, Barbourjacke und Schlapphut. Über der Barbourjacke trug sie eine Schärpe wie eine Schönheitskönigin, nur stand auf dieser hier
»Organisator« zu lesen. Die, die da von Yvonne organisiert wurde, waren mehrere ihrer Anhänger, die definitiv aus dem Dorf stammten, sowie eine Reihe von Leuten, die ebenso definitiv nicht aus dem Dorf waren. Die zweite Gruppe war jung und sah abgerissen aus. Ein paar junge Mütter waren darunter mit verwirrten Kindern in Sportwagen. Tristan war da. Er hielt ein Ende eines großen Banners mit der Aufschrift: EIN HUHN IM FREIEN IST ZWEI IM KÄFIG WERT. Das andere Ende des Banners wurde von einem leichenblassen Mann mit langem, nach hinten gekämmten Haar und fliehender Stirn gehalten. Sie alle standen mehr oder weniger im Schatten des Huhns. Es hatte einen gewaltigen, runden, hellgelben Leib aus Schaumstoff. Der Kopf, eine zweite, kleinere Kugel, schwankte unsicher auf der ersten. Die Beine steckten in schrumpligen gelben Strumpfhosen und endeten in gelb bemalten Turnschuhen. Aus der großen Kugel ragten zwei Arme in gelben Strickärmeln und Handschuhen, die jovial grüßend zum Wagen winkten. Im oberen Teil der großen Kugel war ein Sehschlitz, durch den, wer auch immer in der eigenartigen Verkleidung dieses Monsterhuhns steckte, sehen konnte, wohin er beziehungsweise sie ging.
»Diese Leute haben völlig den Verstand verloren!«, ächzte Liam.
»Nein, haben sie nicht«, widersprach Sally, der die Unterhaltung mit Mrs. Goodhusband wieder einfiel.
»Es ist ein Protestmarsch gegen die Hühnerfarm. Yvonne hat mir davon erzählt.« Wie auf ein Stichwort hin kam Yvonne zum Wagen und strahlte die Insassen durch die Windschutzscheibe hindurch an.
»Guten Morgen!«, rief sie, bemüht laut genug zu sein, um dieses Hindernis zu durchdringen. Sally kurbelte das Fenster herunter. Yvonne kam herum und beugte sich zu Sally
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