Ein Hauch Von Sterblichkeit
benutzbar. Gas- und Elektroinstallateure waren da gewesen und hatten die Sicherheit der Apparate und Leitungen geprüft. Der Tisch war nicht mehr zu retten gewesen und entfernt worden. An seiner Stelle stand nun ein provisorisches Modell aus Baileys Auktionshalle, das niemand gekauft hatte. Nach Sallys Meinung nicht überraschend. Der Tisch besaß eine grauenhaft grelle rote Plastikoberfläche, die ihn aussehen ließ, als wäre ein Tier darauf hingemetzelt worden. Sally hatte eine blaue Tischdecke darüber gelegt. Die zerbrochenen Scheiben waren neu verglast. Immer noch steckten Glassplitter im Holz, und beschädigte Teile der Einbauküche mussten ersetzt werden. Wenn alles getan war, musste die Küche von oben bis unten renoviert werden. Das bedeutete, einen Maler zu beauftragen – oder Sally musste sich selbst ans Werk machen. Liam zu fragen hatte keinen Sinn. Liam arbeitete nicht mit Pinseln und Farbe oder Werkzeugen. Sally hatte sich an den Anblick der Küche gewöhnt. Sie sah einfach nicht hin. Sie war noch immer traurig wegen ein paar dekorativen Weihnachtstellern, die sie über die Jahre seit ihrer Hochzeit gewissenhaft gesammelt hatte. Die Druckwelle der Explosion hatte sie von den Wänden gerissen. Das Porzellan in den offenen Regalen des Küchenschranks war auf die gleiche Weise in einen Scherbenhaufen verwandelt worden. Doch es brachte nichts, den Dingen nachzutrauern. Leben bedeutet mehr als der Besitz von ein paar Wertsachen, sagte sie sich. Dinge waren ersetzbar. Menschen waren es nicht. Und doch war ein nicht zu ignorierender Symbolismus in all den zersprungenen Tellern, von denen jeder einzelne ein Jahr ihrer Ehe mit Liam repräsentierte. Sie verdrängte den Gedanken entschlossen. Was sie immer noch nicht ganz unter Kontrolle hatte, war ihre Reaktion auf die Geräusche, die die allmorgendliche Ankunft der Postbotin verursachten, die Schritte auf dem Kiesweg zu ihrem Haus etwa, und in dieser Hinsicht hatte sie Libby belogen. Ihr Herz schlug schneller, ihre Brust schnürte sich beim Motorengeräusch des Postwagens zusammen, und ihr Magen verknotete sich. Es waren nur die Nerven. Trotzdem war Sally die letzten beiden Tage morgens unmittelbar nach dem Aufstehen körperlich übel gewesen. Sie war nicht schwanger, so viel war sicher. Sie hatten sich ein Baby gewünscht, als sie frisch verheiratet gewesen waren. Aber es war kein Baby gekommen, und weitere Untersuchungen hatten ergeben, dass auch in Zukunft keines kommen würde. Liam schien es nichts weiter ausgemacht zu haben, doch das Wissen darum hatte sich hartnäckig in Sallys Hinterkopf gehalten und im Lauf der Jahre zu einer traurigen Schicksalsergebenheit geführt. Jedes andere Paar hätte künstliche Befruchtung oder Adoption probiert. Doch Liam hatte niemals angedeutet, etwas an ihrer Kinderlosigkeit zu ändern. Sie wusste tief in ihrem Herzen, dass Liam keine Kinder wollte. Kinder verlangten Aufmerksamkeit, und sie waren laut und kosteten Geld. Das waren seine Worte damals gewesen, als die Ärzte ihnen erklärt hatten, dass ihre Ehe kinderlos bleiben würde. Außerdem würden heutzutage sowieso viel zu viele Kinder in die Welt gesetzt, hatte Liam hinzugefügt. Sally war anderer Meinung gewesen, doch Liam wusste nichts davon. Sie hatte ihm nichts davon gesagt, und er hatte auch niemals danach gefragt. Doch jener Tag, an dem der Arzt ihnen die nackte Wahrheit gesagt hatte, war einer der schwärzesten in ihrem ganzen Leben gewesen. Lange Zeit hatte sie fasziniert reagiert, sobald sie ein Baby in einem Kinderwagen oder einem Sportwagen sah. Jede junge Frau schien ein Baby zu haben. So war das auf dem Land und in der Kleinstadt. Es gab nicht allzu viele Karrierefrauen dort. Stattdessen waren die Mütter jung, manchmal sogar sehr jung, und einige, wie es Sally schien, waren unglaublich achtlos im Umgang mit den Kindern, die sie mit sich herumschleppten. Die armen Würmchen wurden behandelt wie unbequeme Anhängsel, eine zu schwere Einkaufstasche, die man in Eingängen abstellte und auf Bänken vergaß. Sally hatte gelernt, die Sehnsucht tief in ihrem Innern zu verbergen. Die Babys nicht anzusehen. Den Eingangsbereich von Grundschulen nachmittags um halb vier zu meiden, wenn die Kinder herausgestürzt kamen und die Eltern sie aufsammelten, in wartende Wagen führten und davonfuhren, nach Hause zu Kinderfernsehen und kindgerechter Nahrung und Kissenschlachten zur Schlafengehenszeit. Das war nicht für sie bestimmt. Nicht für Sally. Niemals für sie.
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