Ein Hauch Von Sterblichkeit
wäre es bestimmt einfacher, sich mit ihm zu auseinander zu setzen, dachte sie häufig. Zum ersten Mal entdeckte sie tatsächlich eine Regung unter dem dichten Gesichtshaar. Liams Mund bebte, und vermutlich auch sein Kinn.
Er hat Angst!, schoss ihr durch den Kopf. Der Brief hat ihm Angst gemacht! Sie verspürte einen eigenartigen Nervenkitzel, fast Befriedigung, was sie nicht wenig erschreckte.
Er nickte bejahend.
»Ja, einverstanden. Ich rufe diesen Burschen an, diesen Superintendent Markby. Diesen herablassenden Knilch! Das wird ihm die Arroganz aus dem Gesicht fegen! Beim letzten Mal hat er noch so getan, als würde er mir nicht glauben.«
»Selbstverständlich hat er dir geglaubt! Was hast du gesagt, von wem stammt der zweite Brief? Von Yvonne Goodhusband?« Schweigend reichte er ihr die anderen Blätter. Als Sally sie entgegennahm, fiel ein gefaltetes Blatt heraus. Auf der Vorderseite war eine schlecht reproduzierte Fotografie einiger Hühner, die dicht an dicht in einen winzigen Käfig gequetscht saßen. Sie boten ein Bild des Elends. Das Huhn, das der Kamera am nächsten war, sah aus, als sei es bei lebendigem Leib gerupft worden. Sally ließ das Faltblatt auf dem Tisch liegen und widmete sich dem Brief. Er war auf teurem Papier geschrieben, mit einer gedruckten Adresse oben links. Die Handschrift war gleichmäßig, flüssig und fest.
Lieber Dr. Caswell,
Ich war, wie Sie sich leicht vorstellen können, auf das Äußerste beunruhigt, als ich von dieser schlimmen Geschichte erfuhr. Ich hoffe sehr, dass sich Ihre Frau inzwischen wieder erholt hat. Wie Sie wissen, engagiere ich mich im Tierschutz, und gemeinsam mit gleich gesinnten Freunden habe ich eine Interessengruppe gegründet. Ich muss betonen, dass weder ich noch ein anderes Mitglied der Gruppe Gewalt in irgendeiner Form in Betracht ziehen würden. Ich bin entschieden gegen die Methoden von Gruppierungen wie jener, die einen heimtückischen Anschlag mit einer Briefbombe gegen Sie und Ihr Heim geführt hat. Meine und die Hoffnung meiner Gruppe gehen dahin, dass Vernunft und rationale Argumentation letztendlich obsiegen werden. Ich bin sicher, wenn die Menschen sich nur genügend Zeit zum Nachdenken nähmen, sähen sie ein, dass so vieles falsch ist in unserem Verhalten gegenüber anderen Kreaturen, die außer Stande sind, für sich selbst zu sprechen. Ich war sehr traurig, als ich erfuhr, dass Sie Tiere in Ihrem Labor für Versuchszwecke nutzen. Ich hoffe, dass ich zu gegebener Zeit bei Ihnen anrufen darf, damit wir diese Angelegenheit besprechen können? Bis dahin habe ich mir die Freiheit genommen, einen unserer Handzettel beizufügen, als Beispiel für die Informationen, die wir verteilen. Mit freundlicher Hochachtung Yvonne Goodhusband
»Die Frau ist verrückt!«, ereiferte Liam sich.
»Wenn sie glaubt, dass ich mir von ihr in meinem eigenen Haus Vorträge anhöre, dann erwartet sie eine Überraschung! Ich schicke diesen Brief zusammen mit dem anderen zu Markby. Was mich betrifft, so ist das Nötigung!«
»Ich möchte Yvonne nicht verärgern«, protestierte Sally.
»Ich bin sicher, dass sie dich nicht nötigen wollte. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die mich in diesem Dorf freundlich aufgenommen haben. Nur weil sich jemand einer guten Sache verschreibt …«, sie bemerkte Liams finsteren Blick und schwächte ihre Worte ab:
»… nur weil sich jemand einer Sache verschreibt, die er für gut hält, bedeutet das noch lange nicht, dass er verrückt ist! Yvonne ist in mehr als einer Hinsicht ein Mensch, der sich bis ins Letzte an Konventionen hält. Ich war zwei Mal morgens bei ihr zum Kaffee, und es waren sehr formelle Treffen.«
»Und jetzt siehst du, wohin es führt, wenn du dich mit ihr abgibst«, knurrte Liam unfreundlich. Sally nahm das Faltblatt auf. Das federlose Huhn starrte sie zwischen den Käfigstäben hindurch an. Der Blick war anklagend, vorwurfsvoll. Sally starrte auf ihren Teller mit den Rühreiern.
»Ich habe die Eier im Supermarkt in Bamford gekauft«, sagte sie.
»Ich glaube, dass sie vielleicht von der Legebatterie weiter unten an der Straße sind. Weißt du, welche ich meine?«
»Ob ich es weiß? Ich rieche sie jedes Mal, wenn der Wind aus der Richtung weht!«
»Glaubst du …?« Liam beugte sich vor.
»Nein, glaube ich nicht! Du willst wissen, ob in dieser Legebatterie alle Vögel in winzige Käfige gesperrt sind und sich mit den Überresten ihrer abgeknipsten Schnäbel gegenseitig die Federn ausrupfen, nicht
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