Ein Hauch Von Sterblichkeit
Stattdessen war Liam zu ihrem Kind geworden, ein verzogenes, zu groß gewordenes Kind, fordernd, undankbar, das ihre Liebe ausnutzte und ihr das Herz brach. Sie verzieh ihm, verzieh ihm immer wieder. Was hatte sie schon für eine Alternative? Nichts außer völliger Leere. Wenn also die Übelkeit nicht von einer Schwangerschaft ausgelöst worden war, dann musste es daran liegen, dass sie das morgendliche Eintreffen des Postwagens fürchtete. Nichts als etwas Psychosomatisches, etwas völlig Unnötiges. Heute waren es nur Briefe. Keine dicken, verdächtigen Päckchen, keine wattierten Umschläge. Gott sei Dank!, dachte Sally.
»Alles für dich.« Mit diesen Worten reichte sie ihrem Ehemann die Briefe. Ganz gleich, wie oft sie sich sagte, dass es nicht wieder passieren würde, nicht wieder passieren konnte, dass das Postverteilstelle auf der Hut war und nach allem Verdächtigem Ausschau hielt, dass die Absender es einmal probiert hatten und dass es nicht funktioniert hatte und sie es nicht wieder versuchen würden – niemals, niemals wieder würde sie einen Brief oder ein Päckchen öffnen, das nicht eindeutig an sie allein adressiert war. Nicht, weil sie wollte, dass Liam etwas zustieß, keineswegs. Sie hatte einfach nur Angst, so einfach war das. Liam stopfte Müsli aus einer Schale in sich hinein. Er grunzte nur und nahm den Stapel Briefe entgegen. Sie spürte einen ärgerlichen Stich, weil er nicht einmal
»Danke« sagte. In letzter Zeit ärgerte sie sich über mehr und mehr Kleinigkeiten an seinem Verhalten. Vielleicht hatte sie sich schon seit Jahren darüber geärgert. Vielleicht bin ich seit der Explosion besser darin geworden, der Realität ins Gesicht zu sehen, überlegte sie. Er hat wirklich überhaupt keine Manieren. Wäre er nicht ein so hoch begabter Mann, dann wäre er ein Flegel, keine Frage. Sie musste sich das nicht gefallen lassen. Wirklich nicht. Nach so vielen Jahren des Getretenwerdens krümmte sich der Wurm doch noch. Oder fing zumindest an, ernsthaft darüber nachzudenken. Trotzdem wagte sie diesmal noch nicht, sich dahin gehend zu äußern. Stattdessen ging sie zum Herd.
»Möchtest du jetzt deine Eier?« Wieder antwortete er nicht, doch sie hatte nichts anderes erwartet. Er war mit seinem Müsli fertig. Sie machte sich daran, das Rührei auf zwei Teller zu verteilen. Ein plötzlicher Schwall von Flüchen hinter ihr ließ sie innehalten. Verblüfft wandte sie sich zu Liam um, die Pfanne in der Hand.
»Unverfrorenheit!« Er hielt ein paar Blätter Papier von sich gestreckt.
»Diese verrückten Irren!« Seine Hand zitterte, und sein Gesicht war rot vor Zorn. Das elende Gefühl kehrte zurück. Es verdrehte Sally den Magen und ließ eine Woge von Übelkeit über sie hinwegschwappen.
»Soll das … soll das heißen – mehr von diesen Briefen?« Nein, nein, bitte nein!, bettelte eine Stimme in ihrem Kopf. Es muss ein Irrtum sein!
»Einer. Ein Drohbrief, von einem Analphabeten. Zwei, wenn man den hier mitzählt.« Er wedelte mit einem Blatt Papier in der Luft.
»Aber dieser hier ist nicht anonym. Er ist von dieser verrückten Frau, wie war doch gleich ihr Name – Goodhusband. Sie lebt am anderen Ende des Dorfes in diesem großen, verschachtelten Haus. Keine Drohungen, nur eine frömmelnde gutbürgerliche Moralpredigt.«
»Yvonne?« Sally riss sich zusammen. Sie stellte die Pfanne ab und trug die beiden Teller mit Rührei hinüber zum Tisch. Als sie Liam gegenüber Platz genommen hatte, schüttelte sie ihre Serviette aus und fragte:
»Nun?«
»Was? Ach so. Hier. Sieh dir das an! Aus Zeitungen ausgeschnitten!« Er reichte ihr einen der Briefe. Das Papier war billig und liniert, unsauber von einem Block abgerissen, die Risskante oben unregelmäßig. Die Worte waren aus einer Zeitung ausgeschnitten und eingeklebt. Es gab keine Unterschrift.
BEIM NÄCHSTEN MAL KRIEGEN WIR DICH
Die Übelkeit wich Zorn.
»Wie können sie es wagen!«, rief sie.
»Wie können sie es wagen, uns noch weiter zu belästigen!« Sie blickte auf.
»Du gibst diesen Brief doch der Polizei?« Es war keine Frage. Entweder er übergab ihn der Polizei, oder Sally würde es selbst tun. Keine Diskussionen diesmal. Die Sache war weit genug gegangen. Viel zu weit.
Ein Blick in das Gesicht ihres Mannes zeigte ihr, dass er ebenfalls so dachte. Liams Augen funkelten. In einem bärtigen Gesicht richtet sich die Aufmerksamkeit fast automatisch auf die Augen, wie Sally schon früher festgestellt hatte. Würde Liam sich rasieren,
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