Ein Haus für vier Schwestern
zur letzten Nacht hatte sie noch nie eine Kuh auf der Straße gesehen.
Rachel nahm ein Papiertuch vom Nachttisch und schnäuzte sich. Sie weinte schon wieder. Sie schien einen unerschöpflichen Vorrat an Tränen und keinerlei Kontrolle darüber zu besitzen, wann sie wieder anfingen zu fließen.
Die Angst schnürte ihr den Magen und die Brust ab. Die Kehle wurde ihr eng, sodass sie das Gefühl hatte, ersticken zu müssen.
Sie hatte versucht, die Schmerztabletten zu schlucken, die die Krankenschwester ihr gereicht hatte, doch sie schaffte es nicht. Sie mussten ihr eine Spritze geben.
Schritte auf dem Gang. Nicht das leise Klappern der Krankenschwestern, sondern ein festes, schnelles Auftreten. Rachel sah zur Glasscheibe in der Tür, konzentrierte sich auf die Reflexion des Lichts. Doch anstelle des erwarteten Arztes erschien eine Frau.
»Rachel?«
Ginger. Rachel versuchte aufzustehen, doch sie war zu steif dazu. »Was machst du denn hier? Wo sind die Kinder?«
»Bei Christina. Ich dachte mir, du wolltest sie noch nicht hier haben.«
»Wieso Christina?«
»Ich habe sie angerufen. Sie ist rübergefahren, um auf sie aufzupassen, solange ich bei dir bin.«
Ginger kam um das Bett herum und blieb wie angewurzelt stehen. »Meine Güte«, japste sie. »Du siehst aus wie … als hätte es dich schlimm erwischt.«
»Mir geht es nicht so schlecht, wie es aussieht.« Jedenfalls nach Gingers Gesichtsausdruck zu urteilen.
»Was ist mit deinem Kopf passiert?«
Rachel berührte vorsichtig den Verband, der den zehn Zentimeter langen Schnitt hinter ihrem Ohr bedeckte. Die Schwester hatte sich dafür entschuldigt, dass sie ihr das Haar dort abrasieren musste. Die kahle Stelle würde man eine Zeitlang sehen.
»Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich war das ein Felsbrocken. Mein Fenster war offen.«
»Du wirst zwei nette Veilchen bekommen.«
»Das Schlimmste sind die drei gebrochenen Rippen. Die tun die ganze Zeit weh. Besonders im Liegen.«
»Und das ist alles? Du stürzt über die Klippen ins Meer und alles, was du hast, sind drei gebrochene Rippen und eine Schnittwunde?« Ginger kam näher, um sie sich genauer anzusehen. »Was ist das da an deinem Arm?«
Rachel runzelte die Stirn und streckte ihn aus. Die Schürfwunden sahen aus, als hätte sie jemand mit grobem Schmirgelpapier bearbeitet. »Ich muss mich beim Hochklettern aufgeschürft haben.« Sie sah auf ihre Beine. Die sahen schlimmer aus als die Arme.
»Haben sie dir schon etwas über Jeff gesagt?«
Rachel schüttelte den Kopf und stöhnte bei jeder Bewegung. »Nichts, außer dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht.«
»Soll ich versuchen, etwas herauszubekommen?«
»Ich weiß nicht. Ich hab so eine Angst«, flüsterte Rachel, als ob das ein Geheimnis wäre. »So bleibt mir wenigstens ein bisschen Hoffnung.«
»Wie lang ist es her?«
Rachel sah zur Wanduhr neben dem Fernseher. »Fast sechs Stunden.«
»Ich konnte Jeffs Bruder erreichen. Er hatte Dienst auf der Feuerwache. Er will kommen, sobald er jemanden gefunden hat, der für ihn einspringt. Ich weiß nicht, ob er fliegen oder fahren will.«
Rachel hatte Ginger aus dem Krankenwagen angerufen und sie gebeten, Logan zu informieren. Der sollte dann entscheiden, ob man die Eltern benachrichtigen musste, die sich anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit gerade auf einer Kreuzfahrt im Südpazifik befanden.
»Er kann gut mit den Kinder«, sagte Rachel. »Sobald er da ist, kann er dich und Christina ablösen.«
»Als ob das klappen würde. Er muss wahrscheinlich schwer darum kämpfen, die Kinder von Christina loszueisen.« Ginger lächelte. »Was mich anbetrifft, habe ich einen Urlaub dringend nötig. Ach was, eigentlich könnte ich auch gleich kündigen. Es ist ja nicht gerade mein Traumjob, und ich habe genügend Ersparnisse, um mich mindestens sechs Monate über Wasser zu halten.«
Rachel wusste nicht, was sie sagen sollte. »Danke.«
»Wofür?«
»Für alles. Dass du meine Freundin bist – und meine Schwester.«
»Deine Freundin zu sein ist nicht besonders schwierig. Und für das Schwesterndings kann ich nichts, das hat uns Jessie eingebrockt.«
Rachel nahm eine Bewegung vor der Glasscheibe war, ein Mann in Grün. Sie hätte wissen sollen, dass sie die Schritte des Chirurgen in den OP-Schuhen nicht hören würde.
»Mrs Nolan?«
Ginger schreckte hoch. »Sie ist hier.« Sie ging ihm entgegen. »Kommen Sie bitte.« Sie streckte ihre Hand aus. »Ginger Reynolds. Ich bin Mrs Nolans
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