Ein Herz bricht selten allein
Sie fand es öde. Dabei war es ein Buch, von dem man sprach und das man gelesen haben mußte, um dabeizusein. Wobei? Bei den Menschen, die zählten. Welche zählen? Zählten Schwester Ina und Frau Laastrek und Mary Croon?
Mary Croon jammerte ihr wortreich von ihrer bösen Stiefschwester vor, die dem Vater so schön tat und ihm allmählich alles abluchste, was eigentlich Mary zukam. Es gab so gemeine Menschen auf der Welt.
»Ja, da haben Sie recht.«
»Meine Abendtemperatur geht ‘rauf, anstatt ‘runter.«
»Oh...«
Solche Gespräche fanden jeden Tag zur selben Stunde und über dieselben Themen statt. Frau Laastreks Schwager betrieb eine Tulpenfarm in Holland, was Frau Laastrek nicht nur erwähnenswert, sondern interessant genug fand, um sich jeden Tag von neuem darüber auszulassen.
Bettina bekam viel Post. Sogar Poldi hatte sich zu einem Brief aufgerafft. Er schickte ein Foto von Nancy mit. Bettina fand ihre zukünftige Schwägerin eher interessant als schön. Aber wie weit man mit der Schönheit kam, sah sie ja an sich. Sie war schön, aber das pausbäckige Julchen machte das Rennen. Abgemeldet, überfahren.
Am Mittwoch, an ihrem dienstfreien Nachmittage durfte Bettina bei gutem Wetter einen Bummel in den Ort machen. Sie schlenderte in ihren hohen Pelzstiefeln und dem lammfellgefütterten Mantel durch die Straßen, begleitet von dem Geklapper der geschulterten Ski der Wintersportler, und mimte auf Après-Ski. Sie sahen alle gesund und vergnügt und unternehmungslustig aus, und sie sollten ja nicht denken, Bettina käme aus einem der berühmten Sanatorien. Sie fühlte sich wie eine behütete, exotische Pflanze, die aus dem Gewächshaus entronnen war und sich nun auf einer derben Bauernwiese herumtrieb. Sie fing an, die vergnügten Urlauber zu hassen, denen sie allen ein sorgloses Zuhause und ein von Glück bescheidenes Leben andichtete. Dummes Sportpack!
Zu Anfang hatte Bettina noch hier und da auf der Toilette heimlich eine Zigarette geraucht, aber die Patienten spionierten einander nach, und die Schwestern schnupperten mit ihren auf sündiges Nikotin gedrillten Nasen überall herum, der Rauch setzte sich in den Kleidern, und natürlich setzte er sich auch, wie Bettina zugeben mußte, in ihrem angeschlagenen linken Lungenflügel fest. Jedesmal war die Sache mit der heimlich gerauchten Zigarette aufgekommen. Und natürlich hatte man sie verpetzt. Professor Burrli, der sonst so gern über alles seine Späßchen machte, war fuchsteufelswild geworden, denn in bezug auf Nikotin fehlte ihm jeglicher Sinn für Humor. So hatte Bettina auch dieses letzte kleine Vergnügen aufgegeben und lutschte jetzt Lakritzen.
Lohnte das Leben noch? Ja, es lohnte. Denn es gab Bibi, und es gab Mama, die fast jeden zweiten Tag einen Brief schrieb, die Rührende, und schon viermal hatte sie angerufen, um Bettina aufzuheitern. Anna übertraf sich selbst. Sie war eine ideale Mutter. Gab es an ihr auch nur die geringste Kleinigkeit auszusetzen? Alle Gefechte, auch die großen, hitzigen Kämpfe der Vergangenheit, waren vergessen.
Pünktlich mit dem Kalendertag erschien in diesem Jahr der Frühling. Er hielt seinen Einmarsch mit föhnigen Winden, die den Schnee von den Südhängen in tausend murmelnde Bäche verwandelten, an geschützten Plätzen begannen die Krokusse zu blühen, und wie die Pilze aus der Erde schossen die Warntafeln >Lawinengefahr<, und wer es nicht glaubte, brauchte nur auf das dumpfe Donnern zu lauschen, das von Zeit zu Zeit hörbar wurde.
Professor Burrli war mit ihrem Krankheitsverlauf, ein Wort, das er übrigens nie benützte, sondern immer durch >Gesundungsprozeß< ersetzte, nicht unzufrieden. »Nur mehr Lebensfreude müßten Sie haben, liebes Kind. Das würde uns vorwärtshelfen, und Sie könnten dann vielleicht im Mai schon heim.«
Lebensfreude? Woher nehmen? Und heim? Wohin? Da lag zwischen den Seiten eines Buches der Brief von Bernhard, der gestern gekommen war. Er begehrte nicht mehr die Scheidung, er bat um sie, bat in höflicher, nahezu herzlicher Form darum, appellierte an Bettinas Einsicht und beschwor sie inständig, sich nicht von Haß- oder Rachegefühlen leiten zu lassen. Julia erwartete ein Kind.
Nun gut, da hatte sie es also geschafft. Bettina war nicht einmal bitter. Was für ein Glück, daß sie Bernhard nicht mehr liebte. Eigentlich gab es nur noch rationale Beweggründe, die gegen eine Scheidung sprachen, zum Beispiel das Wollen-wir-doch-mal-Sehen! Die rechtmäßige Frau und das Kind aus
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