Ein Herz bricht selten allein
hier
herumzustehen. Sie ließ den lauten, unruhigen Bahnhof hinter sich und trat auf
den noch lauteren Bahnhofsplatz hinaus. Und jetzt? Der Raubvogelbursche war ihr
nachgestiegen, und Bettina flüchtete in ein Taxi. Sie sagte: »Fahren Sie zehn
Minuten geradeaus, ganz egal, wohin.« Es gab nichts Beruhigenderes, als in
einem Taxi zu sitzen, sich ziellos durch eine fremde Stadt fahren zu lassen und
dem Fahrer den ganzen Ärger mit dem nervösen Verkehr aufzubürden.
Pünktlich nach zehn Minuten
hielt das Taxi, und der Fahrer fragte über die Schulter: »Wohin nun, Signora?«
Bettina wußte es nicht.
Zwischen häßlichen, verkommenen Häusern eingekeilt lag ein kleiner, mit
Platanen bestandener Platz in der Abendsonne. Die Platanen, von trockener Hitze
und Staub zermürbt, sahen grau und hoffnungslos aus. Unter ihnen spielten
Kinder. Eines davon, ein kleines Mädchen mit einem runden Gesicht und dunklen
Augen mit dem Glanz von reifen Brombeeren, glich Bernhardine. Bettina krampfte
sich das Herz zusammen. Was suchte sie hier eigentlich?
Sie wollte zu ihrer kleinen
Tochter fahren. Aber wie dorthin kommen? Ihre Barschaft war erschreckend
zusammengeschmolzen.
Der Fahrer wartete immer noch
auf ihre Antwort. Er war es gewohnt, mit Ausländern vor Sehenswürdigkeiten zu
halten und zu warten, bis die Fahrgäste in ihren Reiseführern nachgelesen und
ihre Fotos gemacht hatten. Was wollte die Signora hier? Er räusperte sich, und
Bettina, wie auf einer heimlichen Missetat ertappt, nannte ihm die Adresse von
Herrn Seggelin. »Ist es weit von hier?« Er malte mit der Hand eine undeutliche
Antwort in die Abendsonne.
Fuhr der Taxifahrer dreimal
rund um Mailand? Die Fahrt wollte kein Ende nehmen, und der Fahrpreis kletterte
immer höher. Endlich hielt das Taxi vor einem modernen Mietshaus mit einer
aufwendigen, marmorverkleideten Fassade. Bettina machte die unangenehme
Entdeckung, daß sie nicht in der Lage war, den Fahrpreis zu bezahlen. In
manchen Momenten war die Ehrlichkeit, zu der sie von Lehrern, Pfarrern, ihrer
Mutter und Vater Staat erzogen worden war, wirklich unangebracht. Warum hatte
sie vor ihrer Abfahrt aus Elba ihrer Mutter nicht einfach ein paar von den
taschentuchgroßen Zehntausendlirescheinen geklaut anstatt der schäbigen
fünftausend?
»Ich habe nicht genügend Geld
bei mir. Warten Sie bitte einen Augenblick«, erklärte sie dem Fahrer.
Der musterte Bettina vom
Scheitel bis zu den Fußsohlen und schien die Chance, sein Geld zu bekommen, gut
zu finden, denn er nickte.
Bettina schwebte in einem
silbergrauen Aufzug geräuschlos in dem marmornen Palast nach oben. Seggelin
wohnte im Dachgeschoß. Die Tür wurde ihr von einer Frau geöffnet, einer
hübschen, gut gepolsterten Vierzigerin. Es war dieselbe, mit der Bettina
telefoniert hatte. Sie erkannte sie an der Stimme wieder.
»Es tut mir leid, ich kann den
Signore in diesem Augenblick nicht stören«, verkündete sie, als Bettina ihren
Wunsch vorgetragen hatte, Herrn Ludwig Seggelin zu sprechen.
»Es ist dringend.«
»Wollen Sie vielleicht mit
seinem Vater sprechen?«
Bettina wehrte erschrocken ab.
»Ich möchte gern auf Herrn Ludwig Seggelin warten. Wann können Sie ihn stören?«
»In etwa einer Viertelstunde.
Bitte, treten Sie ein. Ich nehme an, Sie sind die Signora aus Genf.« Bettina
widersprach nicht. Sie hatte Angst, sie könnte wieder weggeschickt werden.
Der Raum, in den sie geführt
wurde, hatte nach Westen und Süden Wände aus Glas, die den Blick auf eine mit
rosa blühendem Oleander bepflanzte Terrasse freigaben. Eine Marmortreppe führte
zu einer Bibliothek. Trotz seiner kostbaren antiken Möbel strahlte der Raum
Behaglichkeit aus. Bettina nahm in einem mit Perlmutt und Elfenbein eingelegten
venezianischen Renaissancestuhl Platz. Es war beschämend, in einem solchen
Stuhl zu sitzen und darauf zu warten, daß man den Hausherrn um ein paar tausend
Lire anhauen konnte. Der Taxifahrer unten rauchte gewiß jetzt schon seine
zweite Zigarette und korrigierte seine Meinung über die Vertrauenswürdigkeit
deutscher Damen. Auch die Frau mit der klangvollen Stimme schien nicht die
beste Meinung von Bettina zu haben, denn sie blieb hartnäckig an der reich
eingelegten, sicher aus einem alten Palazzo stammenden Tür stehen.
Bettina dachte daran, daß sie
ihr Make-up hätte etwas erneuern können. Schließlich pumpte man sich mit
tadellos geschminkten Lippen und einem neu aufgelegten Hauch von Augenschatten
besser Geld von einem Mann als mit einem von
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