Ein Herz bricht selten allein
Seggelin starr ins Gesicht. »Ich hatte
Ihr Geld in meinem Koffer«, sagte sie und hielt ihm das leere Glas hin.
Er verstand die Aufforderung,
blieb nachdenklich vor den Flaschen stehen und machte verschiedene neue
Vorschläge.
»Offen gestanden, es ist mir
ganz egal, was Sie mir zu trinken geben«, meinte Bettina. »Sie werden mir ja
doch nicht glauben, was ich Ihnen erzähle.«
»Probieren Sie es doch mal. Ich
habe ein kindliches Gemüt und bin für jede Art von Märchen dankbar.«
Adriana erschien mit der
Botschaft, daß das Taxi bezahlt und das Abendessen in zehn Minuten fertig sei.
Bettina atmete auf.
»Mein Vater ist zu Besuch bei
mir. Sie werden ihn kennenlernen«, sagte Seggelin.
Bettinas Stimmung sank wieder
unter den Nullpunkt. »Weiß er von — von...«
»Von dem tragischen Schicksal,
das sein Geld ereilt hat? Ja, er weiß es.«
Bettina haspelte die Odyssee
des Geldes ohne Punkt und Komma herunter, um sie möglichst rasch loszuwerden.
»Ich bin zu meiner Mutter nach Elba gefahren. Meine Mutter hat wieder mal ihre
romantische Tour. Sie hat sich an den Busen der Natur geworfen. Kein warmes
Wasser, viel Mücken, viel Dornen, kein ordentliches Bett, aber dafür tagsüber
jede Menge Sonne und Meeresrauschen und nachts nichts als Sternenhimmel.
Kurzum: Ich fuhr zu Mama, weil ich einfach total abgebrannt war. Mama sollte
mich wieder flottmachen. Sie schreibt, müssen Sie wissen. Leider keine
Bestseller, Kurzgeschichten und so. Zufällig kam auch mein Bruder nach Elba.«
»Ebenfalls abgebrannt, wie ich
annehme«, unterbrach sie Seggelin.
Bettina hielt ihm zum
zweitenmal das leere Glas hin. Sie mußte neuen Mut tanken. »Wir nennen ihn
Poldi, aber eigentlich heißt er Leopold«, berichtete sie, als könne sie dadurch
noch einen kleinen Rest der Familienehre retten. »Wir haben in Mamas
Ferienbungalow in einem Zimmer geschlafen, Poldi und ich. Poldi hat in meinem
Koffer nach Zigaretten gekramt und dabei das Geld entdeckt. Ich meine das Geld
Ihres Vaters, Sie wissen schon. Ich war wirklich ahnungslos. }ean Moulin...«
»Sie meinen Johann Rindlende«,
unterbrach er sie.
Bettina saß mit steifem
Oberkörper da und hatte nur das eine Ziel, ihre Beichte einigermaßen
überzeugend hinter sich zu bringen. »Um es kurz zu machen: Poldi war am
nächsten Morgen verschwunden und das Geld auch.«
Seggelin ging wortlos zum
Telefon und hob den Hörer ab. Rief er die Polizei an? Aber zu Bettinas
Erleichterung stellte es sich heraus, daß es nur das Haustelefon war und
Seggelin sich bei Adriana nach dem Abendessen erkundigte. »Es gibt Pizza als
Vorspeise. Ich hoffe, Sie mögen das«, wandte er sich an Bettina. »Adriana ist
eine wahre Hexenmeisterin in der Küche. Hinterher haben wir Costoletta di
vitello alla valdostana, auf gut deutsch ein Kalbsschnitzel mit Käse und
Trüffelscheiben, dazu Champignons in Marsala und als Dessert eine zuppa
inglese.«
Bettina hatte ihre ganze
Selbstsicherheit verloren. »Wie soll denn die Sache nun weitergehen mit dem
Geld?« fragte sie beklommen.
»Ist Ihr Herr Bruder
vorbestraft?«
»Vorbestraft? Nein, bestimmt
nicht.«
»Dann wird er wahrscheinlich
Bewährungsfrist bekommen«, bemerkte Seggelin.
»Sie wollen ihn doch nicht etwa
anzeigen? Schließlich bin ich nicht hierhergekommen, um ihn zu denunzieren,
sondern um irgendeinen Ausweg zu finden.«
»Und wie stellen Sie sich
diesen Ausweg vor?«
»Ich werde die Schulden
bezahlen, ganz einfach.«
»Oh, Sie verfügen über flüssige
Geldmittel? Das wußte ich nicht.« Er sah sie mit sichtbarem Wohlgefallen an.
Bettina dachte an das Taxi, das
er für sie bezahlt hatte. Sie hätte in den Boden versinken mögen, und sie
fragte sich, was sie eigentlich noch hier suchte. Sie hatte ihre Mission
erfüllt, ihr Gewissen erleichtert und sich für Poldi gedemütigt. Wurde ihre
heroische Tat überhaupt richtig eingeschätzt?
Ein Gongschlag rief zum Essen.
Seggelin reichte Bettina den Arm, als führe er sie zu einem Hofball, Der kleine
intime Eßraum war mit Mahagonimöbeln ausgestattet. Am Tisch saß ein alter Herr
mit weißem Bart und roten Wangen. Er hatte sich eine riesige Damastserviette
umgebunden. Es war Herr Seggelin senior, aber sie war zu hungrig, um noch die
Kraft für irgendwelche peinlichen Gefühle zu haben.
»Das ist Frau Haller. Sie ist
auf der Durchreise hier. Wir trafen uns in Rom«, stellte Herr Seggelin sie vor.
Adriana hatte hervorragend
gekocht, der Wein aus der Karaffe aus geschliffenem Rubinglas floß viel
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