Ein Herz bricht selten allein
einen sandigen Weg, der zu einer
bewaldeten Höhe führte. Hier setzte sie sich unter eine Korkeiche und grübelte
darüber nach, warum sie mit anderen jungen Menschen so viel besser auskam als
mit ihren eigenen Kindern. Die Vorstellung, daß Poldi jetzt quietschvergnügt
mit Frank und seiner Familie auf einer weinumrankten Terrasse zu Mittag aß und
sich riesige Portionen Spaghetti auftischte, während sie hier von Dornen und
Mücken zerstochen und mit knurrendem Magen saß, verbesserte ihre Stimmung
nicht. Wartet nur, ihr klugen Kinder, ihr bekommt es noch einmal genauso dick
heimgezahlt von eurer eigenen Brut. Diese Gewißheit hatte etwas Tröstendes.
Mittag war längst vorbei, als
sie endlich dorthin kam, wo sie ihr Auto hatte stehenlassen. Sie war in
Kampfstimmung. Von heute an wollte sie ihren Kindern gegenüber einen anderen
Ton anschlagen. Mit Bettina würde sie beginnen.
Aber sie kam nicht dazu.
Bettina war nicht da, nur ein Zettel lag auf dem Tisch: »Verzeih die
Scherereien. Wenn Poldi jemals wieder auftauchen sollte, verschone mich bitte
mit seinem Anblick. Ich will versuchen, alles irgendwie wieder einzurenken.
Bettina. PS: Ich habe eine Anleihe von 5000 Liren bei Dir gemacht. Du
bekommst das Geld zurück.«
Bettina hatte wohl den
Mittagsomnibus erwischt und war mit dem 12.30-Uhr-Schiff gefahren. Anna ging in
die Kammer, in der Bettina und Poldi genächtigt hatten. Sie hob die Matratze
und fand das Geld. Sicherheitshalber zählte sie es nach. Es war genau eine
Million Lire, ein dicker Packen nahezu neuer Scheine.
Bettina erreichte Mailand nach
dreimaligem Umsteigen. Sie verteidigte ihren Koffer gegen einen Gepäckträger
und schleppte ihn selbst zur Aufbewahrung, um die hundert Lire zu sparen. Dann
kaufte sie am Zeitschriftenstand eine Fernsprechmünze. Seggelins Adresse und
seine Telefonnummer hatte sie sich notiert. Sie steckte sich eine Zigarette an
und wählte die Nummer. Eine italienische Frauenstimme meldete sich, und Bettina
versuchte, ihr in ihrem schlechten Italienisch klarzumachen, daß sie Herrn
Seggelin zu sprechen wünsche. Sie erfuhr, daß zwei Seggelins zu Auswahl
standen, ein Ludwig und ein Manfred Seggelin. Sie wußte, daß ihr Seggelin, der
sie wegen des Geldes verfolgt hatte, Ludwig hieß.
»Ich möchte Herrn Ludwig
Seggelin sprechen«, sagte sie, aber als er sich meldete, war sie nicht sicher,
ob es der richtige war. Für Bettina sprachen alle Schweizer gleich.
»Ich bin Bettina Haller«, sagte
sie vorsichtig. »Erinnern Sie sich?«
»Ja, gewiß, ich erinnere mich.«
Klang das nicht etwas zugeknöpft? Jedenfalls nicht hocherfreut. Die
Frauenstimme gehörte wahrscheinlich seiner Frau, seiner Geliebten oder sonst
irgendeinem Weib.
Bettinas Mut sank. Sie sagte:
»Ich hätte Sie gern gesprochen.«
»Ah, ja? Ich fühle mich sehr
geehrt.«
Sie sah ihn deutlich vor sich,
mit seiner gesunden Hautfarbe und seinen sehr hellen Augen, die er immer etwas
zusammenkniff. Man war nie ganz sicher, ob er einen an- oder auslachte. Warum
eigentlich sollte sie die volle Wahrheit sagen und ihren Bruder Herrn Seggelins
Gnade ausliefern?
»Ich bin am Bahnhof. Ich bin
auf der Durchreise hier. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Herr Moulin das Geld
nicht hat«, sagte sie hastig.
»Oh, Herrn Rindlendes Freunde
werden es für ihn auf bewahren. Er selbst sitzt augenblicklich in Rom in
Untersuchungshaft. Aber davon abgesehen freue ich mich, daß Sie noch an mich
denken. Ich werde Sie in bester Erinnerung behalten.«
»Mein Zug geht«, fiel Bettina
ins Wort. »Auf Wiedersehen.« Damit hängte sie ein.
Sie trat vor die Telefonzelle
und blies sich eine Strähne ihres roten Haares aus der Stirn. Sie hatte
versagt. Jean würde aussagen, daß er das Geld in ihrem Koffer versteckt hatte.
Und was dann? Die Polizei würde Fahndungen anstellen, eines Tages würden die Carabinieri
bei ihrer Mutter aufkreuzen, die ganze Gegend würde davon erfahren, und man
würde der pòvera Signora, deren Kinder Verbrecher waren, fortan mit scheuem
Mitleid begegnen. Bettina wußte nicht, ob sie noch länger hier auf dem Bahnhof
herumstehen sollte. Sie blickte unschlüssig um sich. Die Männer sahen Bettina
abschätzend an, manche pfiffen herausfordernd, wenn sie an ihr vorbeigingen.
Ein besonders hartnäckiger Bursche mit einem blassen Raubvogelgesicht und dunklem
Kraushaar umkreiste sie, als wolle er sich jeden Augenblick auf sie stürzen und
sie in Stücke reißen. Schließlich wurde es Bettina zu dumm, entschlußlos
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