Ein Herz voll Liebe
froh sie war, ihn wiederzusehen. Dabei hatte sie gedacht, sie wäre die Gefühle für diesen Mann mittlerweile los. Verflixt, dachte sie, ich muss aufpassen, dass ich ihm nicht zu sehr entgegenkomme. Es wäre nur peinlich. „Warum trinken wir nicht gemeinsam Kaffee?” fragte sie. „Es gibt hier in der Nähe ein Cafe, wo wir ungestört sein werden.”
„Sie brauchen einen Mantel”, war alles, was er erwiderte. Tatsächlich, er ist ein Mann von wenigen Worten, dachte Mollie amüsiert, doch sie konnte erkennen, dass er sich bereits ein wenig entspannt hatte.
Sie nickte. „Ich bin gleich wieder da.” Erst als sie außer Sichtweite war, begann sie, die Treppe hochzulaufen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Dann rannte sie über den Flur zu ihrem Zimmer und war nicht überrascht, dass Sharon neugierig um die Ecke lugte.
„Und?” wollte Sharon wissen.
„Er ist ein Freund, den ich von zu Hause kenne”, sagte Mollie nur, bevor sie nach ihrer Jacke griff.
„Echt? Ich wünschte, ich hätte auch solche Freunde. Wirst du ihn den anderen Mädchen vorstellen?”
„Er ist schüchtern.”
Sharon lachte wissend. „Na klar, solche Typen sind immer äußerst schüchtern!”
Mollie hatte diese Worte noch im Kopf, als sie die Treppen hinuntereilte. Sie hatte Sharon irgend etwas geantwortet, doch als sie ge nauer darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass Deke tatsächlich schüchtern war - zumindest was Frauen betraf. Warum hatte er sich sonst mit all den Nachbarinnen im Haus so unwohl gefühlt? Wenn ich nicht so hartnäckig gewesen wäre, dachte sie, hätte er mich sofort wieder weggeschickt. Letztendlich bin ich es dann gewesen, die ihn vor der Frauenbrigade schützen sollte, gestand sie sich ein.
Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag auf Deke zuging, wusste sie, dass ihre Anwesenheit ihn heute wieder einmal vor den Zudringlichkeiten neugieriger Frauen schützen würde. Sie sah, dass bereits einige Mädchen versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
Ohne großen Erfolg allerdings. Mollie war sich klar, dass es höchste Zeit war, ihn zu retten.
Daher trat sie an seine Seite, hakte sich bei ihm ein und sagte fröhlich: „Fertig?” Als ob solche Vertraulichkeiten zwischen ihnen an der Tagesordnung gewesen wären! In Wahrheit war sie ihm zuvor niemals so nahe gewesen.
Er blickte auf sie hinunter, zugleich erstaunt und erleichtert. Ihre plötzliche Annäherung irritierte ihn offensichtlich. Mit einem kurzen Nicken schob er sich den zerknautschten Stetson auf den Kopf und begab sich mit den ihm eigenen langen Schritten zur Tür. Er öffnete sie für Mollie und ging hinter ihr hinaus. Mollie vergrub ihre Hände in den Jackentaschen, bevor sie der Versuchung erlag, sich wieder bei ihm einzuhaken.
Es tat so gut, ihn nach all der Zeit wiederzusehen. Er hatte wieder etwas zugenommen, so dass er nicht mehr halbverhungert wirkte, doch die Linien in seinem Gesicht waren tiefer geworden. Sein Haar war immer noch zu lang, als ob er sich nicht dazu überwinden könne, es schneiden zu lassen.
Während sie mit ihm zum Cafe ging, das sich etwas außerhalb des Campus befand, wartete Mollie darauf, dass er etwas sagen würde. Doch nach längerem Schweigen zuckte sie die Achseln und begann: „Wie geht es Jolene?”
„Gut”, erwiderte er rau. „Ihr fehlt nichts.”
„Ich wette, sie ist ziemlich gewachsen. Während der letzten Monate habe ich immer wieder an sie gedacht und mir überlegt, wie sie wohl aussehen mag.”
Wieder wartete sie darauf, dass er sprach, doch es kam nichts, weder ein Beschreibung, noch griff er wie erhofft in seine Jackentasche, um ein Babyfoto herauszufischen, das sie bewundern konnte.
Okay, dachte sie, dann eben nicht. „Wie geht es Mrs. Franzke?”
Er seufzte frustriert. „Oh, ihr geht es gut. Es ist nur …” Die Worte wollten nicht über die Lippen kommen. Schwer atmend rückte er seinen Hut zurecht und zog die Krempe tiefer in die Stirn. Mollie erkannte, dass irgend etwas absolut nicht in Ordnung sein konnte, doch sie hatte es vermutet. Warum sollte Deke sonst bei ihr im College auftauchen und um eine Unterredung bitten?
„Was ist los, Deke?” fragte sie deshalb geradeheraus. „Was ist schiefgelaufen?”
Er schüttelte unsicher den Kopf und sagte nichts mehr, bis sie das Cafe erreicht hatten. Es war recht groß, doch im Moment befanden sich kaum Leute darin. Es war schließlich Freitag Nachmittag, und Weihnachten stand vor der Tür. Die meisten Kommilitoninnen lernten entweder
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