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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara J. Henry
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dass er mehr haben wollte. Wir verhandelten: mehr Cheerios, sofern er Tiger das angebissene Pizzastück überließ.
    Ich sah zu, wie er sein Frühstück mampfte, und hoffte, dass er nicht gegen irgendetwas allergisch war. Als er die zweite Schüssel geleert hatte, holte ich die nassen Sachen und warf sie in die mobile Waschmaschine. Dann rollte ich sie an die Spüle, schloss sie an den Wasserhahn an und schaltete sie ein.
    |38| Was nun? Ich konnte versuchen, mehr von Paul zu erfahren, oder aber weiter recherchieren. Wir gingen nach oben. Als wir ins Büro kamen, klingelte das Telefon. Ich zuckte zusammen, und Paul huschte ins Schlafzimmer.
    Es war mein Bruder Simon.
    »Hey, Kleine, wie geht’s?« Die Tatsache, dass ich elf Monate jünger bin, berechtigt ihn eigentlich nicht zu dieser Bezeichnung, aber ich lasse es ihm durchgehen. Meistens jedenfalls. Simon hatte die Erwartungen der Familie sehr viel besser erfüllt als ich: Er schrieb sich gehorsam an der Vanderbilt University in Nashville ein, an der unser Vater unterrichtet, und belegte einen Vorbereitungskurs für Jura, worin ihn unsere Eltern gern unterstützten. Doch statt in den Semesterferien die Sau rauszulassen, legte er in Orlando heimlich die Polizeiprüfung ab und bekam dort eine Stelle. So tut er genau das, was er immer gewollt hat. Nach dem ersten Schock waren alle der Meinung, es sei ein cleverer Weg, um vor dem eigentlichen Jurastudium Berufserfahrung zu sammeln. Simon lässt unsere Eltern in diesem Glauben. Allerdings wissen sie nicht, dass er sich heimlich ein zweites Standbein als Künstler aufbaut und schon das eine oder andere Werk verkauft hat. Er denkt nicht im Traum daran, jemals Jura zu studieren.
    Als ich ein Stipendium für die Oregon State erhielt und das letzte Jahr an der High School sausen lassen wollte, beschwichtigte Simon unsere Mutter und brachte unseren Vater dazu, die nötigen Papiere zu unterzeichnen – notfalls hätte ich seine Unterschrift auch gefälscht. Wenn mich jemand versteht, dann Simon. Er weiß, dass ich unbedingt von zu Hause weg musste. Und er weiß auch, dass ich in dieser Gebirgsstadt leben muss, die mehr als eineinhalbtausend Kilometer von Nashville entfernt ist.
    »Wie immer«, sagte ich. »Arbeit, Hund, Haus. Bin nach Keene Valley gefahren. Und ich hab den Algonquin bestiegen.« Ich hatte mit Simon zwei Gipfel der Adirondacks bestiegen. |39| Noch hatte ich nicht alle sechsundvierzig geschafft, hakte aber fein säuberlich einen nach dem anderen ab.
    Er lachte. »Mensch, du hast es ja schwer da oben in der Provinz.«
    »Genieße das Leben, bald kannst du vor Hitze nicht mehr atmen.«
    »Immerhin haben wir keine Kriebelmücken.«
    »Nein, aber fliegende Küchenschaben.« Ich zögerte. »Sag mal, Simon, was macht ihr bei der Polizei, wenn ein Kind gefunden wird und seine Eltern sich nicht melden?«
    Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen – genau wie ich konnte er schnell umschalten. »Es wird publik gemacht, bis ein Verwandter auftaucht oder man die Familie ermittelt hat. So wie bei dem Kind, das in einem Einkaufszentrum irgendwo im Westen zurückgelassen wurde. Oder das kleine Mädchen, das allein durch New York lief, nachdem seine Mutter von ihrem Freund getötet worden war. Ihr Foto wurde so lange in den Zeitungen und im Fernsehen gezeigt, bis man sie identifiziert hatte. Warum fragst du?«
    »Mmm, es geht nur um einen Artikel, an dem ich gerade arbeite.« Ich hatte einen Kloß im Hals. Richtig gelogen war es nicht – ich
könnte
durchaus einen Artikel über verlassene, vernachlässigte und von Fähren geworfene Kinder schreiben. Dann schaltete ich auf Smalltalk um. Simon erzählte, dass zwei Bilder von ihm in einer Ausstellung gezeigt wurden; ich erwähnte einen Artikel, den ich an die Zeitschrift
Triathlete
verkauft hatte.
    Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Paul stand in der Tür. Ich hob den Finger, signalisierte:
eine Minute
, verabschiedete mich und legte auf. Dann hatte ich eine Idee.
    Ich klopfte aufs Sofa, und Paul kletterte neben mich. Ich holte ein Fotoalbum aus dem Regal und schlug es auf. Zuerst zeigte ich ihm Bilder von mir und Tiger, dann ein Bild von Simon. »
C’est mon frère
«, sagte ich und fragte, ob er auch Geschwister |40| habe. Er schüttelte den Kopf. Einen Hund? Wieder Kopfschütteln und ein kleines Stirnrunzeln, als hätte er sich einen gewünscht und keinen bekommen.
    Dann zeigte ich ihm Fotos von meinen Eltern und dem Haus, in dem ich aufgewachsen war.

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