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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara J. Henry
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schaute sie verwundert an.
    »Sie hingen in seinem Badezimmer.« Sie sprach so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.
    Gemeinsam starrten wir die feuchten Kleidungsstücke an. »Er hat sie gewaschen«, sagte ich. Vielleicht hatte er ins Bett gemacht, aber das erklärte nicht die Socken. Dann fielen mir die Sachen ein, die Paul getragen hatte, als ich ihn fand: Hemd, |179| Unterwäsche und Socken waren grau und verschossen gewesen. Da dämmerte es mir. Ein kalter Schauer überlief mich. Während der Gefangenschaft hatte Paul seine Sachen vermutlich im Waschbecken gewaschen. Mit sechs Jahren. Entweder hatten die Entführer es ihm gesagt, oder er war von selbst darauf gekommen.
    Und weil er es monatelang so gemacht hatte, machte er es auch hier, obwohl stapelweise frische Kleidung in seinem Schrank lag.
    Es dauerte einen Augenblick, bevor ich sprechen konnte. Ich räusperte mich. »Vermutlich hat er vergessen, dass Sie die Waschmaschine benutzen. Ich nehme an, er musste seine Sachen selber waschen, während er weg war.« Ich konnte es nicht über mich bringen,
während er gefangen war
zu sagen.
Während er entführt war. Während er eingekerkert war.
    Elise schaute auf die Sachen, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich blinzelte, damit wir nicht beide anfingen zu weinen.
    »Tun Sie sie einfach in die Wäsche. Ich rede mit Paul, wenn er aufwacht, und sage ihm, dass Sie die Sachen lieber in der Maschine waschen. Er soll sie in den Wäschekorb werfen. Und ich erzähle Monsieur Dumond heute Abend davon.«
    Als Paul aufwachte, deutete ich auf seinen Wäschekorb und erzählte ihm, wie gern Elise ihre neue große Waschmaschine anwarf. Hoffentlich würde er jetzt nicht für den Rest seines Lebens glauben, dass Frauen gerne Wäsche wuschen. Ich zeigte ihm die sauberen Sachen in seinem Kleiderschrank und erklärte, dass sein Papa ihm gerne neue kaufen würde, wenn sie abgetragen oder zu klein wären.
    Nachdem Paul ins Bett gegangen war, redete ich mit Philippe. Es war schwer für uns beide, doch allmählich begriff ich, welche Schlüsselrolle ich hier spielte. Elise konnte mit diesen schmerzlichen Erinnerungen nicht umgehen, ich schon. Ich war die Verbindung zwischen dem alten und dem neuen Leben.
    |180| Das schien auch Philippe zu registrieren; ein weiteres Thema für Gespräche mit der Psychologin.
    Claude sei enttäuscht gewesen, weil er Paul nicht sofort besuchen konnte, habe aber Verständnis gezeigt. »Ich wollte ihm persönlich sagen, dass Paul wieder zu Hause ist, doch die Polizei hatte sich schon mit ihm in Verbindung gesetzt.«
    Ich konnte verstehen, dass Philippe es ihm lieber selbst gesagt hätte. Zu erfahren, dass der eigene Neffe zurückgekehrt war, die geliebte Schwester aber nicht mehr wiederkommen würde, musste sehr gemischte Gefühle auslösen. Ich persönlich hätte bei meinen Neffen auf der Matte gestanden, sobald ich von ihrer Rückkehr erfahren hätte, aber ich mag meine Neffen auch sehr viel lieber als meine Schwestern.
    Im Bett las ich das Buch über Natascha Kampusch. Sie war als Zehnjährige entführt und in einem Keller gefangen gehalten worden, und mit achtzehn konnte sie entkommen. Die Leute fragten sich, weshalb sie nicht früher geflohen war, da sie manchmal sogar mit ihrem Entführer in der Öffentlichkeit gewesen war. Allerdings hatte er sie zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre gefangen gehalten. Wie das Dugard-Mädchen in Kalifornien, das entführt und achtzehn Jahre lang gefangen gehalten wurde. Die Menschen begreifen nicht, dass sich Kinder völlig auf die Erwachsenen in ihrer Umgebung verlassen, und wie schnell sie erkennen, dass ihr Überleben von dem Menschen abhängt, der Macht über sie besitzt. Und wie empfänglich sie für alles sind, was der Entführer ihnen sagt.
    Der Umschlag mit den Kopien von Simons Zeichnungen lag auf dem Schreibtisch. Ich nahm sie heraus und schaute die Gesichter an – diese Männer waren fünf Monate lang Pauls einziger Kontakt zur Außenwelt gewesen.
    Nachdem ich wieder ins Bett gekrochen war, gingen mir ihre Gesichter nicht mehr aus dem Sinn.

|181| 28
    In der Nacht schlug ich die Augen auf und war plötzlich hellwach. Meine Gedanken waren so klar, wie es nur mitten in der Nacht der Fall sein kann. Wäre ich mit Paul gleich nach seiner Rettung zur Polizei gegangen, hätten sie an diesem Tag vielleicht bessere Zeichnungen bekommen, weil die Eindrücke in seiner Erinnerung noch frischer waren. Dann hätte er sie nicht ausgeblendet und durch

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